Editorial

Wirbt die Pharmaindustrie zu viel?

(20.10.16) Stimmt es, dass Pharmafirmen mehr Geld in die Vermarktung ihrer Produkte stecken als in die Forschung? Und falls ja, ist das schlimm?
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Werbung für kokainhaltige Tabletten gegen Zahnschmerzen anno 1885

Pharmafirmen haben kein gutes Image. Immer wieder stehen sie in der Kritik, unter anderem, weil ihre – vielfach emotional und moralisch aufgeladenen – Produkte teuer sind. Pharmafirmen rechtfertigen hohe Preise mit den vorgeblich hohen Forschungskosten: Da nur wenige Arzneimittelkandidaten den Weg bis in die Apotheke schaffen, müssten die erfolgreichen Produkte die Fehlschläge mitfinanzieren. Immer wieder werden aber Stimmen laut, die kritisieren, dass Pharmafirmen ja eine ganze Menge Geld übrig zu haben scheinen – Geld, das sie mit vollen Händen für Werbung ausgeben. Ist das so?

Wohin fließt das Geld?

Werbung für Medikamente begegnet uns im Alltag überall. Egal, ob in Zeitschriften, im Fernsehen oder als großformatiges Werbebanner an der Litfaßsäule: Rheumasalbe, Nasenspray, Hustensaft und Schmerzmittel werden überall angepriesen. Werbung für verschreibungspflichtige Mittel sehen wir nicht, denn das Heilmittelwerbegesetz (HWG) verbietet sie zum Schutze des Verbrauchers. Natürlich gibt es sie trotzdem. Das Werbeverbot besteht nur gegenüber einem Laienpublikum, nicht aber gegenüber Ärzten.

Editorial

2008 veröffentlichten die kanadischen Wissenschaftler Marc-André Gagnon und Joel Lexchin von der York-Universität in Toronto Forschungsergebnisse, wonach die amerikanische Pharma­industrie im Jahre 2004 fast doppelt so viel Geld in Werbung wie in Forschung und Entwicklung investierte (Plos Medicine 5 (1), 2008). Dabei stützten sich Gagnon und Lexchin auf Zahlen von zwei Markt­forschungs­instituten und der Nationalen Wissenschaftsstiftung. Demzufolge hatten die Pharma­firmen gemeinsam im besagten Jahr rund 58 Milliarden US-Dollar für Werbezwecke, aber nur 32 Milliarden US-Dollar für Forschung und Entwicklung ausgegeben.

Eine aktuellere Erhebung des Marktforschungsinstituts GlobalData aus dem Jahre 2015 scheint dies zu bestätigen. Deren Berechnungen ergaben, dass beispielsweise der US-Konzern Johnson & Johnson und das Schweizer Unternehmen Novartis mehr als das Doppelte beziehungsweise rund die Hälfte mehr für Werbung als für die Forschung ausgeben.

Steigende Werbeausgaben

Auch die Deutsche Apothekerzeitung (DAZ) beschäftigte sich kürzlich mit dem steigenden Werbeetat von Pharmafirmen. Laut der Online-Plattform STAT gaben diese in den USA im Jahr 2015 mit mehr als fünf Milliarden US-Dollar rund 50 Prozent mehr für Werbung aus als vier Jahre zuvor. Zwar ist die Situation in den USA speziell, da dort auch verschreibungspflichtige Medikamente beworben werden dürfen.

Doch ein Anstieg ist auch in Deutschland zu verzeichnen. Mit Ausgaben von mehr als einer Milliarde Euro lag die Pharmaindustrie 2015 bereits auf dem fünften Platz der Branchen mit den höchsten Werbeausgaben, 2016 scheinen die Zahlen weiter zu steigen.

Die Daten entnahm die DAZ Erhebungen des Marktforschers Nielsen, die auf dem Statistikportal Statista veröffentlicht wurden. Sie beruhen zum Teil auf Hochrechnungen und beziehen sich weitgehend auf Werbeanzeigen, also nur auf ein Standbein der vielen Marketingstrategien. Diese Zahlen selbst zu überprüfen, ist nahezu unmöglich, denn Pharmakonzerne verbreiten sich allzu gerne über ihre vorgeblich immensen Forschungsausgaben, halten sich aber bei Aussagen zu ihrem Werbeetat meist bedeckt. Auch gegenüber der DAZ war offenbar keine Pharmafirma bereit, Angaben zu ihrem Werbeetat in Deutschland zu machen.

Kaum verlässliche Daten

Ein paar Eckdaten lassen sich dann doch finden, wie eben bei Statista. Die dort gelisteten Daten sind zwar meist kostenpflichtig, aber eine ausnahmsweise frei verfügbare Tabelle zu Werbeausgaben von führenden Pharmafirmen in den USA im Jahre 2013 gibt zumindest Anhaltspunkte. Das US-amerikanische Pharmaunternehmen Merck & Co. hat demnach in diesem Jahr rund 1,5 Milliarden US-Dollar für Werbung ausgegeben; dem gegenüber standen Investitionen von 7,5 Milliarden Euro für Forschung. Größenordnungsmäßig – die Werbeausgaben beziehen sich nur auf die USA – ließ sich Merck seine Forschung also fünfmal soviel kosten wie seine Reklame.

Bei den bereits erwähnten Konzernen Johnson & Johnson sowie Novartis scheint das Verhältnis noch deutlicher zu Gunsten der Forschung verschoben: Beide steckten nur rund zehn Prozent der jeweiligen Forschungsausgaben in die Werbung; ähnlich sah es bei der britischen GlaxoSmithKline und der amerikanischen Amgen aus.

Wo sich Werbung verbirgt

Wie kommen aber die Forscher aus Toronto und GlobalData auf ihre Zahlen? Hierfür gibt es eine einfache Erklärung, denn Werbung ist nicht gleich Werbung – oder anders gesagt: Nicht alles, was Werbung ist, heißt auch so. So haben die Kanadier Besuche bei Ärzten, Seminare zur Einführung neuer Medikamente und das Verteilen von kostenlosen Produktproben mit einberechnet. Diese Maßnahmen gelten aber nicht als Werbung, sondern fallen unter Public Relations oder Vertrieb. Eine beliebte PR-Maßnahme ist beispielsweise das Lancieren von Advertorials, von Pharmafirmen in Auftrag gegebenen und bezahlten Zeitschriftenartikeln, die Fachinformationen enthalten und nach außen wie normale Beiträge erscheinen. Allerdings werden darin in der Regel nur die Vorzüge eines Produkts angepriesen, eine ausgewogene Berichterstattung fehlt.

Des Weiteren werden Schulungen und Konferenzen für Ärzte und Apotheker organisiert, sowie Meinungsführer bezahlt, die die Auf­merksamkeit für Produkte in Fachkreisen und der Öffentlichkeit erhöhen sollen. Verkaufsfördernde Maßnahmen wie die Organisation von Messen, die Arbeit von Pharmareferenten und die Verteilung von Give-aways gehören zum Vertrieb. Die DAZ verweist zusätzlich auf Grauzonen wie die Anwendungsbeobachtung, bei der die Arzneimittel­produzenten Ärzte dafür bezahlen, dass sie die Wirkung von Arzneimitteln bei ihren Patienten beobachten. Dies wird als Ausgabe für Forschung und Entwicklung abgerechnet, könnte aber genauso gut zur Werbung gehören. Immerhin wird die Maßnahme die Beliebtheit des Produkts beim Arzt steigern. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind diese Marketingsstrategien gerade nicht in den Werbeausgaben enthalten, die sich der Statistik von Statista entnehmen lassen.

Warum Werbung?

Warum muss die Pharmaindustrie überhaupt so viel Werbung machen? Gibt es viele der Medikamente gar keinen echten Markt? Gerade bei nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten existieren oft verschiedene Wirkstoffe für die gleiche Anwendung, wodurch Konkurrenz entsteht. Dazu enthalten Generika die gleichen Wirkstoffe wie teure Markenprodukte, sind aber günstiger. Um das Originalprodukt überhaupt verkaufen zu können, müssen eben Vorteile, etwa dessen angebliche „Zuverlässigkeit“, hervorgestrichen werden. Auch stecken Pharmafirmen immer wieder Geld in Kampanien, um ihr angekratztes Image aufzubessern.

Letztendlich ist ein Arzneimittel ohne Alleinstellungsmerkmal ein Produkt wie jedes andere, das sich gegen Konkurrenz durchsetzen und dementsprechend beworben werden muss. Werbung muss auch ein Produkt nicht zwangsweise teurer machen. Gute Werbung sollte den Absatz steigern, was durchaus zu einer Preissenkung führen kann. Ungut ist aber auf jeden Fall die mangelnde Trans­parenz beim Thema Arzneimittelwerbung durch verdeckte Werbeausgaben und indirekte Werbe­maß­nahmen für verschreibungspflichtige Medikamente. Übel wird es, wenn solche Maßnahmen dazu führen, dass ein Arzt Medikamente verschreibt, die nicht die beste Wahl für den Patienten sind. Aber das ist ein anderes Thema.

Larissa Tetsch



Letzte Änderungen: 11.11.2016