Editorial

Bibliotheken - Schmarotzer in Universitäten und Kommunen?

Siegfried Bär berichtet über eine Podiumsdiskussion mit diesem Titel, die am 18. März auf dem Bibliothekartag in Düsseldorf stattfand und macht anschließend einen interessanten Vorschlag.

(09.06.2005) Diskussionen ziehen jedoch wie Krimis ihre Spannung aus Gegensätzen und auch in Düsseldorf wurde ein Böser gebraucht, also einer, der die Schmarotzerfrage bejahte. Zu diesem Zweck war Herr Brennicke eingeladen worden. Letzterer hatte sich mit einem Laborjournal-Artikel bei den Bibliothekaren unbeliebt gemacht und wäre der berufene Böse gewesen. Ihm hatte aber die Zeit gefehlt, die Prügel dafür höchstpersönlich einzustecken. Als Ersatz musste ein Laborjournal-Redakteur einspringen und dieser Redakteur war ich.

Es tat mir in der Seele weh.

Ich bin nämlich ein Freund von Bibliotheken und Bibliothekarinnen, jenen sanften, leisen, freundlichen Wesen mit dem Hauch von Bücherstaub auf dem Rouge.

Aber wenn ich schon mal den Bösen spielen muss, dann richtig. Ich warf folgende These in den Raum: Die naturwissenschaftlichen Bibliotheken sind so unnötig wie ein Kropf. Und damit auch die naturwissenschaftlichen Bibliothekarinnen. Alles, was der Forscher braucht, ist ein Internet-Zugang und die Lizenz zum Einloggen. Was er nicht braucht, ist eine Bibliothek, in der Druckkopien verstauben, und davon immer weniger.

Die Gründe:

1. Der durchschnittliche Biologe liest nur Zeitschriftenartikel. Kaum Bücher. Das liegt in der Natur der Forschung: Buchpublikationen sind - mit wenigen Ausnahmen - zu langsam. Die Ausnahmen kann man kaufen.

2. Zeitschriftenartikel sucht und findet der Forscher bequem im Netz. Ein bisschen tippen - schwupp - ist der Artikel da. Man muss keine Bibliotheksöffnungszeiten beachten, keine Treppen steigen, nicht mehr kopieren. Man kann die Artikel bequem in einer Zentrifugationspause lesen, oder wenn das Gel färbt.

Wenn ich heute in eine Bibliothek gehe, bin ich in der Regel der einzige Besucher. Ich gehe tatsächlich in Bibliotheken, ich radle sogar quer durch Freiburg zur Bibliothek des MPI für Immunologie - aber nur weil mir die Lizenzen zum Einloggen fehlen. Wenn ich dann, etwas atemlos, die Bibliothek betrete, betrete ich einen menschenleeren Raum. Und wenn man doch mal einen Menschen antrifft, dann liest er Zeitung oder starrt vor sich hin.

Sehe ich das nicht zu einseitig? Gibt es nicht vielleicht doch Argumente für die naturwissenschaftliche Bibliothek?

Richtig: In der Bibliothek ist es schön ruhig, keine Laborhetze, kein Zentrifugengejaul. Man kann gut nachdenken. Aber das können Sie noch besser beim Spazierengehen im Botanischen Garten. Außerdem braucht man zum Nachdenken keine Bibliothekarin.

Ebenfalls richtig: Die Studenten haben sonst kaum Zugang zu Artikeln. Aber die Studenten lesen keine Artikel, jedenfalls nicht freiwillig. Der Beweis: Man sieht kaum Menschen in den naturwissenschaftlichen Bibliotheken, und Studenten sind Menschen. Und wenn man doch welche sieht, dann lesen sie ihre Lehrbücher, die sie von draußen mitgebracht haben. Sie missbrauchen die Bibliothek als Wärmehalle. Die wenigen Artikel, die die Studenten lesen müssen, kann ihnen der Dozent ausdrucken. Zudem hat heute jeder Student Internetzugang und viele Artikel erhält man auch ohne Lizenz.

Für die Bibliothek spricht auch: Man kann stöbern, wahllos Zeitschriften aufschlagen, den Artikel anlesen, zur nächsten Zeitschrift springen, etc. Das befruchtet, das regt an. Das geht zwar im Prinzip auch im Netz, aber in der Bibliothek ist es schöner und geht sogar schneller. Ich stöbere gerne, aber damit scheine ich allein zu stehen. Sie sehen, mit den Gründen, die für die Bibliothek sprechen, konnte ich mich nicht einmal selber überzeugen. Der Schluss ist unausweichlich: Die naturwissenschaftliche Bibliothekarin ist für den Forscher so notwendig wie der Gaslaternenanzünder für die Stromversorgung. Besser man richtet in der Bibliothek einen Tanzsaal ein und statt einer Bibliothekarin bezahlt man zwei Doktoranden. Das habe ich auf der Podiumsdiskussion denn auch gesagt. Mit etwas Angst im Bauch, die aber unberechtigt war. Die Hörerschaft zeigte sich sanft, leise und freundlich. Es zeigte sich aber im Lauf der Diskussion, dass Bibliothekare und -thekarinnen noch eine andere Charaktereigenschaft haben: Sie haben Mut.

Ich wäre fast vom Stuhl gefallen, als Wolfgang Löw unverblümt erklärte, ich hätte recht: "Die Bibliothek als menschenleerer Raum, genau so ist es". Claudia Lux wiederum entfielen die Worte: "Bibliotheken als Schmarotzer? Ich glaube ja." Und das war nur teilweise als Aufmerksamkeitsfänger gedacht. Die Bibliothek sei heute nur noch ein Büro, wo die Zeitschriften verwaltet würden, wo man z.B. mit Verlagen über die Lizenzbedingungen verhandele. Der Forscher sehe das nicht, er wisse nicht, was mit dem Geld geschehe, er entwickele deswegen ein Misstrauen gegen die Bibliotheken. Die Bibliotheken würden schlechtes Marketing betreiben.

Löw und Lux hatten recht: Mich hatte ein Düsseldorfer Professor zu der Tagung gefahren. Der hatte vom Bibliothekartag erst von mir gehört und war erstaunt gewesen, dass an seiner Universität eine solch riesige Tagung stattfände, ohne dass man davon etwas mitbekäme.

Dann meldete sich ein Bibliothekar mit der Mitteilung, es gäbe eine Untersuchung, wonach die Größe einer wissenschaftlichen Bibliothek keine Wirkung auf die Produktivität der sie benützenden Forscher habe. Der Bibliothekar, Oliver Obst aus Münster, gab mir später sogar die Literaturstelle: Gary Byrd (1999): Faculty use of the journal literature, publishing, productivity and the size of health sciences library journal collections. Bull. Med. Libr. Assoc. 87, 312-21. Byrd sage heute zu diesen Ergebnissen: "These results do suggest that physical journal collections have not been as valuable to our faculty researchers as we have previously argued and assumed."

Bibliothekare sind offensichtlich fähig zur Selbstkritik. Mir imponiert das. Sie haben anspruchsvollere Aufgaben verdient als das Verwalten von Lizenzen und Passwörtern. Sie könnten einen Beitrag zu einem echten Problem leisten.

Ein echtes Problem der Forschung sind die hohen Preise für die Zugangsberechtigungen zu den Artikeln. Es ist unverschämt, was die Verlage - allen voran Elsevier - für Abonnements und Zugangsberechtigungen verlangen. Für Artikel, die ihnen die staatlich bezahlten Autoren umsonst liefern. Aber die Verlage können das verlangen, weil es keine Konkurrenz gibt.

Für dieses Problem hätte ich eine Lösung anzubieten:

Die Forscher, die ja von der Universität bezahlt werden, müssen die Rechte an ihren Artikeln an diese abtreten. Die wiederum publiziert sie exklusiv in einer von mehreren universitätseigenen Netz-Zeitschriften. Diese Zeitschriften sind organisiert wie bisher: Es gibt einen Chefredakteur, es gibt Gutachter. Um dem Nepotismus vorzubeugen, sitzen sowohl Chefredakteur als auch Gutachter an anderen Universitäten, besser noch in anderen Ländern. Die Universität kann für die Zugangsberechtigung zu ihren Zeitschriften Gebühren verlangen. Von denen werden die Bibliothekarinnen bezahlt, was übrig bleibt, erhalten die Forscher. Mit Universitäten, die ebenfalls eigene Zeitschriften gründen, werden gegenseitige Nutzungsverträge abgeschlossen. Wenn alle Universitäten das System übernommen haben ist Elsevier pleite, die Gebühren können wegfallen und der Zugang zu öffentlich finanzierten Forschungsergebnissen ist kostenfrei - was er auch sein sollte.

Die breite Fächerung der Zeitschriften gäbe es dann nicht mehr: Kein Journal for animal toxins, nur noch Biology of the University of Düsseldorf oder Tübingen oder Freiburg. Aber das macht nichts. Die Artikel, die für einen wichÐtig sind, sucht man über Stichworte. Ist ja im Netz kein Problem.

Auch kann sich der Forscher nicht mehr Journale mit hohem Impactfactor aussuchen. Er muss ja in Biology of the University of Tübingen publizieren. Die Folge: Wenn auch ausländische Universitäten das System übernehmen, sterben selbst Nature und Science. Nicht mehr das Journal gibt dann Prestige, sondern der Artikel selber, was vielleicht gar nicht so schlecht ist. Und ein anderer Vorteil: Der Impactfactor von Biology of the University of Tübingen sagt etwas über die Forschung der biologischen Fakultät der Tübinger Universität aus und - berücksichtigt man die Mittel, die der Fakultät zur Verfügung stehen - auch über ihre Forschungsleistung.

Wo passen hier die Bibliothekarinnen hinein? Wofür werden sie bezahlt?

Sie verwalten die Journale nicht mehr, sie machen sie. Neben Chefredakteur und Gutachter muss es auch jemanden geben, der die Zeitschriften in Form bringt und dafür sorgt, dass sie rechtzeitig herauskommen. Das übernehmen die Bibliothekarinnen. Damit haben sie eine neue und sinnvolle Rolle.



Letzte Änderungen: 10.06.2005