Editorial

Kanzlerattacke auf eine Totgeburt

Kaum ist quasi Wahlkampf in Deutschland, fordert Kanzler Schröder eine Lockerung der Gesetze zur Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen. Womit er sich offensichtlich als Anwalt für die Forschungsfreiheit profilieren will.

(15.06.2005) "Totgeburt" nannten viele das deutsche Gesetz zur Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen (hES) schon bei seiner Verabschiedung 2002. Und waren sich wohl bewusst, dass in dieser Formulierung durchaus etwas Makabres steckt.

Dennoch sieht es nach des Kanzlers Rede an der Uni Göttingen vom vergangenen Dienstag so aus, als könnten die Zweifler Recht behalten. Denn zumindest aus wissenschaftlicher Sicht ist das Gesetz spätestens nach den spektakulären Resultaten koreanischer Forscher zu restriktiv.

Nach langer Debatte entschied der Bundestag 2002 nämlich folgendes: Das Klonen von Embryos zur Gewinnung von Stammzellen ist grundsätzlich verboten; der Import embryonaler Stammzellen ist nur erlaubt, wenn sie vor dem 1. Januar 2002 durch künstliche Befruchtung gewonnen wurden.

Zum 1. Januar 2002 gab es offiziell gute sechzig Stammzelllinien, die somit deutschen Forschern "erlaubt" waren. Diese waren damals jedoch durch die Bank "Pionier-Linien" und noch lange nicht optimiert. Einige dieser Linien sind denn inzwischen auch eingegangen, andere haben sich als verunreinigt erwiesen.

Seit dem Stichtag hat sich indes international viel getan. Am meisten, wie bereits erwähnt, in Südkorea: Forscher um Woo Suk Hwang transferierten zuletzt Kerne aus den Zellen kranker Menschen in entkernte Eizellen. Resultat waren insgesamt elf Linien embryonaler Stammzellen mit den Erbinformationen von Diabetikern, Hypo-Gamma-Globulinämie-Erkrankten sowie Patienten mit irreparablen Rückenmarksverletzungen. All dies mit Zustimmung der südkoreanischen Ethikkommission - und ohne einen einzigen lebensfähigen Embryo zu schaffen, wie Hwang versichert.

Hwang habe damit diese Krankheiten "in die Petrischale geholt", kommentierte der Hans Schöler, Stammzellforscher für molekulare Biomedizin in Münster. Diese Zelllinien seien daher nicht nur von großem Wert für die weitere Erforschung dieser Krankheiten, sie böten womöglich auch zum ersten Mal einen praktikablen Weg zur therapeutischen Anwendung von embryonalen Stammzellen, ergänzen Schölers Kollegen.

Doch Schöler und Co. dürfen nach dem deutschen Stammzellgesetz nicht mit Hwangs Zellen forschen - nicht einmal in dessen Labor in Südkorea, falls Hwang sie dazu einladen würde. Eine unhaltbare Situation, wie Kanzler Schröder jetzt in seiner Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde für Naturwissenschaften an der Uni Göttingen feststellte - und forderte eine Lockerung der Gesetze, die in Deutschland die Forschung mit embryonalen Stammzellen beschränken.

Das überrascht nicht, denn das war schon vor drei Jahren Schröders Position. Nur befürchteten damals - wie auch jetzt wieder - Kritiker aus sämtlichen politischen, gesellschaftlichen und natürlich auch dem kirchlichen Lager den Einstieg in eine "verbrauchende Embryonenforschung" und opponierten lautstark gegen den "bioethischen Dammbruch". Resultat war 2002 das Gesetz, das nicht Fisch, nicht Fleisch war - weder ethisch, noch forschungspolitisch bezog es eine klare Position.

Nun wird der Kanzler allem Anschein nach bald keiner mehr sein. Vielleicht nutzt er deshalb noch schnell jede sich bietende Gelegenheit, um seine Positionen in die Öffentlichkeit zu schleudern. "Wir dürfen uns in der Bio- und Gentechnik nicht vom Fortschritt in der internationalen Forschung abkoppeln", warnte er etwa in Göttingen. "Dann wären wir von der Mitsprache über die Nutzung und der Kontrolle der Verfahren ausgeschlossen." Die Forschung werde ohnehin in anderen Ländern fortgeführt, so Schröder - "womöglich in einer Art und Weise, bei der ethische Überlegungen praktisch gar keine Berücksichtigung finden. Mit dem Stammzellengesetz aus dem Jahr 2002 haben wir uns in Deutschland im europäischen und internationalen Vergleich auf die Seite der restriktiven Länder gestellt. Es liege jedoch in der Natur der Sache, dass die Gesetze angesichts neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse überprüft und bei Bedarf auch angepasst werden müssen, bemerkte der Kanzler weiter. Weshalb er auch überzeugt sei, dass Deutschland sich "der Tendenz zu einer Liberalisierung der Forschung mit embryonalen Stammzellen auf Dauer nicht entziehen" könne.

Wahrscheinlicher aber ist, dass Schröder die Stammzell-Politik zum Wahlkampfthema für eine vorgezogene Bundestagswahl aufblasen will - und er sich über diese Schiene als Anwalt für die Freiheit in Forschung und Wissenschaften profilieren will. Denn in seiner Rede setzte er flugs noch einen drauf: "Wir wollen in Deutschland eine neue Kultur der Wissenschaft etablieren", so Schröder. "Eine Kultur der Freiheit. Eine Kultur der Forschung ohne Fesseln, aber nicht ohne Grenzen."

Starke Worte, nicht ohne Pathos. Doch der entpuppt sich bekanntlich allzu oft als - hohl.

Ralf Neumann



Letzte Änderungen: 23.06.2005