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Die Löwenzahnpipette

(10.5.17) Forscher aus China und den USA haben eine Alternative zur klassischen Pipette entdeckt, die weder Müll noch Kosten verursacht – und mitunter auch am Fenster des Labors vorbeifliegt.
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Um einige Mikroliter Flüssigkeit präzise von einem Reaktionsgefäß in ein anderes zu transferieren, braucht man eine Pipette. Hat der Kollege diese gerade „entführt“ oder ist die Spitzenbox leer, kann man wahlweise verzweifeln, toben, das Experiment sausen lassen – oder entspannt auf die Grünfläche vor dem Institut blicken, auf der gerade der Löwenzahn blüht.

Wie die Gruppe des Bioingenieurs Feng Xu von der chinesischen Jiaotong University herausfand, kann man mit dem Samen des Löwenzahns tatsächlich Flüssigkeitstropfen kontrolliert aufnehmen und wieder abgeben (Adv. Funct. Mater. DOI: 10.1002/adfm.201606607). Eine einzige Löwenzahnpflanze liefert also hunderte Pipetten.

Die Löwenzahnpipette ist dem genialen Aufbau des Samens, genauer gesagt seines Fallschirms, zu verdanken. Am Samen hängt ein kurzer Stiel, an dessen Ende zig behaarte Fasern symmetrisch radial zur Seite ragen. Taucht man die Fasern in eine wässrige Flüssigkeit, so formieren sie sich um und umschließen einen Tropfen. Zieht man den Samen, zum Beispiel mit einer Pinzette, am Stiel wieder heraus so bleibt die Flüssigkeit, ähnlich wie bei einer Kranschaufel, tropfenförmig zwischen den Fasern hängen.

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Die Fasern saugen sich aber nicht voll, sie umschließen den Tropfen nur. Aufgrund der Biegefähigkeit der Samen und der Oberflächenspannung platzt der gefangene Tropfen nicht auseinander. Wie das Forscherteam zeigt, kann ein Löwenzahnsamen sowohl hydrophile als auch hydrophobe Flüssigkeiten aufnehmen. Stößt der Faserkäfig in eine Flüssigkeit mit geringerer Oberflächenspannung, entlässt er den eingefangenen Tropfen wieder. Der Käfig öffnet sich auch in Gegenwart von Substanzen, welche die Oberflächenspannung senken – wie etwa SDS, Tween oder Triton100.

Mit einer einfachen chemischen Reaktion demonstrierten Xus Mitarbeiter die Praxistauglichkeit der Löwenzahnpipette. Hierzu überführten sie mit einem Samen zunächst einen Tropfen Salzsäure in ein mit Öl gefülltes Eppi. Mit einem zweiten Samen fügten sie einen Tropfen NaHCO3 hinzu. Allmählich fanden HCl und NaHCO3 innerhalb der Ölumgebung zueinander, reagierten und setzen Kohlendioxid als sichtbare Bläschen frei.

Für welche Volumina funktioniert die Samenpipette, und wie reproduzierbar arbeitet sie? Um dies herauszufinden, zählten und vermaßen die Forscher akribisch unzählige Exemplare mit dem Rasterelektronenmikroskop (SEM). Ein Löwenzahnsamen enthält 84 bis 96 Fasern, deren Länge zwischen 4,65 und 5,9 Millimeter schwankt. Das einschließbare Volumen liegt bei 9 bis 10,5 Mikroliter. Mit „frisierten“ Samen, deren Fasern die Forscher mit einer Schere stutzten, zeigte die Gruppe, dass eine kritische Länge von zwei bis drei Millimeter für den Wasser- beziehungsweise Öleinschluss nötig ist. Auch die Anzahl der Fasern und deren Verteilung spielt eine Rolle: Durch symmetrisches beziehungsweise assymmetrisches Entfernen einzelner Fasern wiesen die Forscher nach, dass ein Käfig mindestens 50 symmetrische oder 70 asymmetrische Fasern enthalten muss, um die Tropfen einzufangen.

Anhand dieser Messdaten entwickelte die Gruppe ein mathematisches Modell, welches das sogenannte Collective-Wetting-Phänomen erklärt. Demnach steigt die Volumenaufnahme mit wachsender Faserlänge. Samen mit sechs Millimeter langen Fasern können das größte Volumen aufnehmen, längere Fasern verlieren den Tropfen wieder. Bei sechs Millimetern herrscht ein energetisches Gleichgewicht zwischen der Krümmung der Fasern und der Oberflächenspannung. Interessanterweise hat die Natur diese optimale Länge ziemlich genau getroffen.

Für Molekularbiologen könnte der pumpenfreie Tropfentransfer mit der Löwenzahnpipette interessant sein, um hochsensible Zellstrukturen zu pipettieren, die empfindlich auf Scherkräfte reagieren – wie etwa Protoplasten. Eventuell könnte man sie aber auch für Flüssigkeiten einsetzen, die dazu neigen, an der Plastikoberfläche von Pipettenspitzen hängen zu bleiben. 

Andrea Pitzschke



Letzte Änderungen: 03.06.2017