Editorial

Keimblatt-Theorie reloaded

(25.9.17) Mehr als 100 Jahren lang hielten Forscher eine Kontinuität des inneren Keimblatts (Entoderm) von den einfach aufgebauten Nesseltieren zu den komplex aufgebauten Bilateria (Zweiseitentieren) für bestätigt. Wiener Entwicklungsbiologen  scheinen dies nun widerlegt zu haben.
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Die Keimblätter der Tiere, aus denen später die verschiedenen Gewebe hervorgehen, werden durch Einstülpungs- und Einwanderungsprozesse gebildet. In der Embryonalentwicklung entsteht durch Einstülpung der Blastula („Keimbläschen“) die Gastrula. Bei diesem als Gastrulation bezeichneten Vorgang bilden sich zwei Zellschichten als erste Keimblätter aus – das außenliegenden Ekto- und das innenliegende Entoderm (auch Endoderm).

Bei Vertretern der frühen Tierstämme wie den Nesseltieren (Cnidaria) finden sich nur diese zwei Keimblätter. Dazwischen liegt eine als Mesogloea bezeichnete Zellschicht mit Stützfunktion, die trotz der Namensähnlichkeit keine Ähnlichkeit zum Mesoderm, dem dritten Keimblatt der jüngeren Tierstämme, aufweist. Die meisten Nesseltiere – insbesondere die Blumentiere (Anthozoa) mit den Seeanemonen und Korallen als größte Klasse der Cnidaria – besitzen einen hohlen, zweischichtigen Körper mit einer einzigen Körperöffnung für Nahrungsaufnahme und Ausscheidung unverdauter Nahrungsreste. Der durch die Einstülpung der Blastula entstandene zentrale Gastralraum ist mit einer entodermalen Schicht, der Gastrodermis, ausgekleidet.

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Aus zwei mach drei

Bei dem entwicklungsgeschichtlich jüngeren Tierstamm der Bilateria (Zweiseitentiere) ist der Körperbau dagegen deutlich komplexer. In diese Gruppe gehören drei große Untergruppen, die alle „höheren“ Tiere umfassen. Sie alle besitzen zwischen den beiden Keimblättern nach Art der Nesseltiere ein zusätzliches: das Mesoderm. Laut der traditionellen „Keimblatt-Theorie“ ist das Entoderm der Nesseltiere dem Entoderm der Bilateria homolog und weist daneben Eigenschaften des später entstandenen Mesoderms auf. Diese mehr als 150 Jahre gültige Theorie widerlegten nun Ulrich Technau und sein Team von der Universität Wien, indem sie zeigten, dass das Entoderm der Bilateria nicht vom Nesseltier-Entoderm abstammt, sondern stattdessen aus ektodermalen Gewebe hervorgegangen ist. Das frühe Entoderm entwickelte sich dagegen später zum Mesoderm der höheren Tiere (Nat. Ecol. Evol. 1: 1535-42).

Keimblatt-Schicksale

Die Keimblätter sind jeweils für die Bildung bestimmter Gewebetypen und Organsysteme verantwortlich. So entwickeln sich bei den Bilateria Haut und Nervensystem aus dem Ektoderm, während der Darmtrakt samt weiteren inneren Organen wie der Leber aus dem Entoderm entstehen – und aus dem Mesoderm Muskulatur, Kreislaufsystem, Knochen und Keimdrüsen hervorgehen. Bei den Nesseltieren vereint die Gastrodermis die typischen Eigenschaften des Bilateria-Darms – Verdauung und Nährstoffabsorption – und übernimmt zudem „mesodermale Aufgaben“ wie die Bildung von Muskelzellen und Gonaden.

Ob sich aus diesen ähnlichen Funktionen aber wirklich ableiten lässt, dass – wie von der Keimblatt-Theorie postuliert – aus dem Entoderm der Nesseltiere im Verlauf der Evolution das Entoderm der Bilaterias entstanden ist, war bisher nicht untersucht worden. Dies holten Technau und Co. jetzt nach – und zwar, indem sie die Seeanemone Nematostella vectensis als Modellsystem verwendeten.

Das Schicksal der Keimblätter verfolgten die Wiener, indem sie transgenes, fluoreszenzmarkiertes Spendergewebe der jeweiligen Keimblätter in Embryos der Seeanemone übertrugen. Überdies untersuchten sie die Lokalisation von Darm-typischen Zelltypen sowie die Expression von entodermalen und mesodermalen Transkriptionsfaktoren. Dabei stellten sie zuerst fest, dass der Schlund (Pharynx) der Nesseltierlarve – die Auskleidung der einzigen Körperöffnung – ektodermalen Ursprungs ist (siehe Abbildung). Dasselbe galt für die in den Gastralraum hineinragenden Scheidewände (Septen) der Gastrodermis, während alle anderen gastrodermalen Gewebe wie erwartet von der Entodermis abstammten. Ähnliche Ergebnisse lieferte die Untersuchung anderer Nesseltiere, wie etwa von Weichkorallen oder der Ohrenqualle Aurelia aurita aus der Gruppe der Schirmquallen (Scyphozoa).

Verräterisches Transkriptionsprofil

Die unerwartete Tatsache, dass sich in der Gastrodermis ektodermales Gewebe fand, warf die Frage auf, aus welchem Keimblatt die ebenfalls in der Gastrodermis liegenden Drüsenzellen der Seeanemone hervorgehen. Drüsenzellen sind charakteristisch für den entodermalen Bilateria-Darm. Bei Wirbeltieren werden die Verdauungsenzyme von einem speziellen Organ, der Bauchspeicheldrüse, gebildet und in den Darm abgegeben. Außerdem ist das Drüsenorgan für die Produktion von Insulin verantwortlich. Aufgrund der seit über hundert Jahren angenommenen Homologie des Entoderms sollten auch die Drüsenzellen der Seeanemone entodermalen Ursprungs sein.

 

So stellen sich die Wiener Forscher die revidierte Fassung der Bilateria-Keimblattentstehung vor.

 

Wider Erwarten zeigte sich aber, dass bei der Seeanemone Gene, die für Verdauungsenzyme und für Präproinsulin-artige Peptide kodieren, gar nicht im entodermalen Gewebe aktiv waren. Stattdessen wurden sie ausschließlich im ektodermalen Gewebe des Schlunds exprimiert, welches mindestens sieben verschiedene Drüsenzelltypen ausbildete. Auch der Transkriptionsfaktor foxA als Schlüsselfaktor des Bilateria-Entoderms war im ektodermalen Schlund aktiv.

Daraus konnten Technau und Co. schließen, dass der Schlund – und nicht die Gastrodermis – sowohl Zelltypen als auch aktive Transkriptionsfaktoren mit dem Entoderm der Bilateria teilten und somit dessen Vorläufergewebe darstellen. Die Gastrodermis der Seeanemone zeigte dagegen mit der Aktivität von 21 Transkriptionsfaktoren, deren Homologe die Bilateria unter anderem für die Bildung der Knochen sowie Skelett- und Herzmuskeln benötigen, ein klar mesodermales Transkriptionsprofil. Dies deutet darauf hin, dass sich das Entoderm der Nesseltiere im Laufe der Evolution zum Mesoderm der höheren Tiere weiterentwickelt hat.

Überraschende Abstammung

Als nächstes wollten die Wissenschaftler wissen, ob das Schlund-Ektoderm zusätzlich Ähnlichkeiten zu den ektodermalen Teilen des Bilateria-Darms aufweist. Während der Mitteldarm bei allen Bilateria entodermalen Ursprungs ist, entwickeln sich Vorder- und Hinterdarm bei Wirbeltieren und Insekten aus unterschiedlichen Keimblättern. Bei den Wirbeltieren entstehen Vorder- und Hinterdarm wie der Mitteldarm aus dem Entoderm, bei Insekten dagegen aus dem Ektoderm. Tatsächlich wies der ektodermale Schlund der Seeanemone gleichermaßen Ähnlichkeiten zu ento- und ektodermalen Abschnitten des Darms auf.  Die Tatsache, dass fast alle Marker des Vorder-, Mittel- und Hinterdarms im Schlund-Ektoderm nachweisbar waren, spiegelt folglich die zweifache Rolle des Schlunds bei der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung wieder.

Die Ergebnisse aus Wien erfordern nun eine Überarbeitung der Keimblatt-Theorie. Nach dem neu aufgestellten Modell der Autoren wurde das ektodermale Gewebe des Schlunds durch die Bildung des Bilateria-Darms zu einem neuen Entoderm (siehe Abbildung). Das frühere Entoderm wurde dabei zwischen dem neuen Entoderm und dem übrigen verbliebenen Ektoderm eingeschlossen und dadurch zu einem Mesoderm. Dies bedeutet, dass das Mesoderm in diesem Sinne keine Neuerfindung der höheren Tiere war, sondern dass das entsprechende Gewebe bei den Nesseltieren lediglich eine andere Lokalisation hatte. Und deshalb bis heute als Vorstufe des Mesoderms übersehen wurde.

Larissa Tetsch



Letzte Änderungen: 18.10.2017