Editorial

Sisyphus in Heidelberg

In Heidelberg überprüft Hans Jörg Staehle, ob Kinesiologen mittels kinesiologischen Methoden zuverlässig die Verträglichkeit von Dentalmaterial beurteilen können. Staehles Ergebnis ist eindeutig: Sie können es nicht. Dennoch führt er weitere Tests durch.

(06.11.2006) Im Journal of Dental Research (Vol. 84 (11), S. 1066-1069) erschien im Jahre 2005 eine Studie der Heidelberger Universitätsklinik, die ein selten klares Licht auf das deutsche Gesundheitswesen und den Geisteszustand ihrer Mitspieler (Ärzte und Patienten) wirft. In der Studie geht es um "Angewandte Kinesiologie". Dabei handelt es sich um ein Behandlungs- und Diagnose-System, das Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts von dem amerikanischen Arzt Georg Goodheart erdacht worden war, und mit Meridianen, Akupressurpunkten, Lebensenergie und anderem okkultem Rhabarber hantiert. Die Kinesiologie gehört heute zur sogenannten Komplementär-Medizin.

Unter der Leitung von Hans Jörg Staehle wurde am Universitätsklinikum Heidelberg überprüft, ob zwei "hoch qualifizierte" Kinesiologen mit kinesiologischen Methoden zuverlässig die Verträglichkeit von Dentalmaterial beurteilen können. Das Ergebnis war klar und eindeutig: Sie können es nicht oder mit den Worten Staehles: "Die Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass die Reproduzierbarkeit kinesiologischer Testergebnisse nicht über der Würfelwahrscheinlichkeit liegt."

Das wäre nun nicht überraschend. Die praktischen Schlussfolgerungen einer aberwitzigen Theorie sind ja nur höchst selten zutreffend. In der Tat gab es für die Kinesiologie und ihre Verfahren nie auch nur den Schein einer Wirksamkeit. Am guten Glauben lag das nicht: Es wurden vier wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweise angestellt, alle vier scheiterten. Staehles Studie ist der fünfte Versuch. Überraschend ist jedoch: Die Kinesiologie wird von Heilpraktikern und Ärzten bis heute häufig angewendet. Es gibt Fachgesellschaften, Kurse, Weiterbildungen und Bücher darüber - eine veritable Industrie, die Millionen umsetzt und nur heiße Luft verrührt. Im Gesundheitswesen scheint der gesunde Menschenverstand eine Randexistenz zu führen: Kein Mensch kauft ein Auto, das nicht fährt, aber Millionen nehmen Pillen, die nicht wirken.

Eine weitere Überraschung ist, dass diesem Scharlatanwesen niemand den Garaus macht, am allerwenigsten jene, die von Amts wegen dazu berufen wären: die Gesundheitsbehörden und Krankenkassen. Das Gesundheitsministerium müsste darauf bestehen, dass nur noch solche Therapien zugelassen und bezahlt werden, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen ist. Bei allen anderen heißt es: Geld zurück. Dafür gibt es juristische Grundlagen. So hat das Amtsgericht München im Oktober 2006 entschieden, dass Hexenwerk (zum Beispiel Liebeszauber) eine "objektiv unmögliche Leistung" sei und deshalb auch kein Geld dafür verlangt werden könne (Amtsgericht München 212 C 25151). Es ist auch eine "objektiv unmögliche Leistung", aus okkultistischen Theorien naturwissenschaftlich und medizinisch relevante Aussagen zu extrahieren. Im Übrigen ist das Hexenwesen ähnlich gut belegt wie Kinesiologie, Homöopathie, Anthroposophie et cetera. Es gibt von Professoren geschriebene Bücher, die die Existenz von Hexen nachweisen.

Keine Überraschung war dagegen die Reaktion der von Staehle für seine Studie engagierten Kinesiologen: "Obwohl die AK-Tester vor und während der Untersuchung versicherten, dass sämtliche Bedingungen vollständig erfüllt sind, äußerten sie nach Bekanntgabe der Ergebnisse die Vermutung, dass möglicherweise die Lagerung der kodierten Proben in Papierkuverts eine auf bisher unbekanntem Weg verursachte ungünstige Wirkung entfaltet habe." Wenn es nicht die Papierkuverts gewesen wären, dann der Stand des Mondes oder der Plejaden oder die Luftfeuchtigkeit.

Die Reaktion der Kinesiologen ist verständlich. Die beiden haben für ihre kinesiologischen "Ausbildung" vermutlich teures Geld bezahlt, sie haben ihr Leben, ihr Einkommen, ihre berufliche Zukunft darauf aufgebaut, kurzum: ihr Selbstwertgefühl hängt an der Kinesiologie wie die Qualle auf dem Zaunpfahl.

Nicht verständlich ist die Einschätzung Staehles. Er hält weitere Studien für wünschenswert, "die sich unter anderem mit dem Einfluß des Lagerungsmilieus von Probekörpern auf die Ergebnisse der Kinesiologietestung befassen". Das, lieber Herr Staehle, ist ein hoffnungsloses Unterfangen: Wenn Sie festgestellt haben, dass auch das Lagerungsmilieu keine Rolle spielt, werden Ihre Kinesiologen mit dem Mond ankommen, dann mit den Sonnenflecken, den Sternschnuppen ... und Sie werden darüber emeritiert und die Kinesiologen bleiben Kinesiologen. Es ist falsch, Steuergelder für die Prüfung esoterischer Theorien zu verpulvern: dies ist ein ebenso end- wie sinnloses Geschäft. Richtig ist vielmehr, dass diejenigen, die eine Behauptung aufstellen, auch den wissenschaftlichen Nachweis ihrer Richtigkeit führen müssen. Können sie das nicht, kann der Patient sein Geld zurückfordern und dazu - sollte die Behandlung zu irreversiblen Änderungen, zum Beispiel einer Zahnextraktion, geführt haben - Schadenersatz. Dies würde diesem widerlichen, schmierigen, scheinheiligen Unwesen, das sich unter dem Mantel Komplementär- oder Alternativ-Medizin zu immer größerer Bedeutung aufbläst, endlich den Garaus machen.

Siegfried Bär





Letzte Änderungen: 06.11.2006