Editorial

Von der unbekannten Krankheit zum Volksleiden (Teil 1)

Bei der Alzheimer-Therapie gibt es viele Fortschritte, aber keinen Durchbruch. In einer zweiteiligen Serie berichten wir zunächst über aktuelle Therapieansätze, die mittels Pflastern, Krebsmedikamenten und Impfungen die Gedächtnisschwäche bekämpfen wollen.

(09.01.2007) Alois Alzheimer wäre überrascht. Dass die Krankheit, die heute seinen Namen trägt, binnen 100 Jahren in aller Munde sein würde, konnte der Mann nicht voraussehen. Als der Nervenarzt am 3. November 1906 auf der "37. Tagung Südwestdeutscher Irrenärzte" in Tübingen erstmals "einen eigenartigen schweren Krankheitsprozess der Hirnrinde" beschrieb, sollen die Kollegen dies mit freundlichem Desinteresse zur Kenntnis genommen haben. Alzheimers vorbildliche Fallstudie wurde archiviert – und ward bald 75 Jahre lang vergessen.

100 Jahre nach der erstmaligen Beschreibung ist die Alzheimer-Krankheit (auch Alzheimer-Demenz oder "Morbus Alzheimer" genannt) auf dem besten Weg, als Volksleiden anerkannt zu werden. Nicht nur neu entdeckte Gemeinsamkeiten mit der Zuckerkrankheit Diabetes mellitus sprechen dafür (siehe Teil 2 dieser Serie). Auch die Investitionen in die Forschung sind gewaltig. Alleine die, aus US-amerikanischen Steuergeldern finanzierten, Nationalen Gesundheitsinstitute (NIH) verteilten im Vorjahr 656 Millionen Dollar – das entspricht mehr als einer halben Milliarde Euro. Zudem arbeiten über 100 Firmen an beinahe 200 Substanzen gegen Alzheimer, mehr als für die meisten anderen Krankheiten.

Die Gedächtnisschwäche kostet 193 Milliarden Euro pro Jahr

Das Geld ist gut angelegt. Neben dem unwägbaren Leid für Patienten und deren Angehörige belaufen sich die wirtschaftlichen Schäden durch die Alzheimer-Krankheit auf weltweit jährlich 193 Milliarden Euro, so das Ergebnis einer wissenschaftlichen Schätzung durch Anders Wimo vom Karolinska-Institut in Stockholm. Wilmo präsentierte seine Zahlen im Juli 2006 auf der Internationalen Alzheimer-Konferenz ICAD in Madrid, wo sich mehr als 5000 Forscher für eine Woche versammelt hatten. Dabei ging Wilmo von derzeit 28 Millionen Alzheimer-Patienten weltweit aus, eine Zahl, die mit der erwarteten Zunahme an älteren Menschen rapide wachsen wird, wenn es nicht gelingt, den Ausbruch der Krankheit zu verzögern oder gar zu verhindern.

Die heute verfügbaren, von den meisten Fachgesellschaften empfohlenen Arzneien (Donepezil, Memantine, Rivastigmin und Galantamin) können dies jedoch nicht leisten. Sie dürfen erst nach der Feststellung des Hirnleidens durch einen Arzt verschrieben werden. Danach können sie den Fortschritt der Krankheit im Idealfall um zwei Jahre verzögern, indem sie die Signalleitung im angeschlagenen Denkorgan erleichtern. Allerdings wirken diese Pillen längst nicht bei allen Patienten und nicht wenige Experten bezweifeln, ob der Nutzen den Preis dieser Präparate rechtfertigt.

Pflaster und Implantat im Test

Wohl auch wegen dieser unbefriedigenden Lage waren Vorträge über neue Arzneimittelkandidaten und -verabreichungsformen in Madrid überaus gut besucht. Zu den viel beachteten Neuheiten zählten ein Pflaster und ein Implantat, die ihre Wirkstoffe langsam und über einen längeren Zeitraum abgeben. Damit ließen sich nicht nur Probleme mit dem Schlucken umgehen, die bei vielen Patienten die Medikamenteneinnahme erschweren. Auch Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen könnten deutlich verringert werden, die mit den zugelassenen Arzneien verhältnismäßig häufig auftreten. Diese Hoffnung erfüllte sich jedenfalls in der Vergleichsstudie "IDEAL" mit 1195 Teilnehmern, die Bengt Winblad vom Karolinska-Institut im schwedischen Huddinge auf der Konferenz vorgestellt hat.

Ein täglich erneuertes, zehn Quadratzentimeter großes Pflaster mit Rivastigmin war dabei ebenso wirksam wie zweimal täglich verabreichte Pillen mit dem gleichen Wirkstoff, doch war das Plaster deutlich weniger belastend. Nur sechs Prozent der Plaster-Patienten mussten sich erbrechen, gegenüber 17 Prozent der Pillen-Patienten. Übelkeit vermeldeten sieben Prozent der Patienten mit dem Pflaster; mit Pillen waren es dagegen 23 Prozent. Das Pflaster könne "eine wichtige neue Option für Patienten und deren Familien" werden, folgerte Winblad. Die Zulassung soll gegen Ende des Jahres 2006 beantragt werden, wie die Herstellerfirma Novartis mitteilte.

Mit Krebsmedikamenten und Hautmitteln gegen Alzheimer?

Unterdessen erprobt die US-Firma Voyager Pharmaceutical ein Implantat, welches das Hormon Leuprolid über einen Zeitraum von jeweils acht Wochen freisetzen soll. Leuprolid ist bereits zugelassen zur Behandlung von Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut (Endometriose) und des fortgeschrittenen Prostatakrebs. Auf die Idee, die Substanz auch gegen die Alzheimer-Demenz zu testen kam man, als die Frau eines Krebs-Patienten dessen Ärzten erzählte, dass die Gedächtnisprobleme ihres Mannes im Laufe der Behandlung verschwunden wären.

Leuprolid kann womöglich einen Überschuss an luteinisierendem Hormon im Gehirn reduzieren, was nach Ansicht einiger Forscher den Krankheitsprozess antreibt. Dass Leuprolid die geistige Leistung von Alzheimer-Patienten verbessern kann, wenn es zusammen mit Donepezil, Rivastigmin oder Galantamin gegeben wird, glaubt jedenfalls der Voyager-Forscher Christopher Gregory – auch wenn die Studien, die er auf der Madrider Konferenz vorstellte, nicht so recht zu überzeugen vermochten.

Eher still geworden ist es dagegen um Clioquinol, eine Substanz, die noch vor kurzem als einer der Hoffnungsträger im Kampf gegen die Alzheimer-Demenz gefeiert wurde. Clioquinol, eigentlich ein Mittel gegen Hauterkrankungen, zielt auf das klebriges Eiweißfragment Aß, das über mehrere Zwischenstufen steinharte, mikroskopisch kleine Klümpchen im Gehirn bildet. Diese sogenannten amyloiden Plaques lagern sich sowohl in als auch zwischen den Nervenzellen ab, behindern die Reizleitung und führen letztlich zum Tod der Nervenzellen. Schon der erste Reaktionsschritt auf dem Weg zur Klümpchenbildung konnte in Tierversuchen mit Clioquinol erfolgreich gestört werden. Es bindet Kupfer- und Zinkionen an sich, und entzieht so den "Kitt", ohne den einzelne Aß-Moleküle weniger gut aneinander haften. Was bei Mäusen hervorragend funktionierte, erprobten Wissenschaftler auch an einigen Dutzend Patienten in frühen bis mittleren Alzheimer-Stadien. Zwar habe sich der Krankheitsfortschritt verlangsamen lassen, so die Forscher, doch wegen einer Verunreinigung der Prüfsubstanz wurde die Studie 2005 gestoppt.

Bei der australischen Biotech-Firma Prana entschloss man sich daraufhin, einen Nachfolger für Clioquinol zu entwickeln, der sich besser als Arzneimittel eignen würde. Diese Substanz – vorläufig PBT2 genannt – kann als Pille geschluckt werden, geht schneller ins Gehirn als der Vorläufer und verursachte bei knapp 90 gesunden Freiwilligen im Alter bis zu 85 Jahren auch in der höchsten Dosis keine ernsten Nebenwirkungen. Ob PBT2 indes auch Alzheimer-Patienten helfen kann, muss sich erst noch erweisen und soll im nächsten Schritt an mehreren schwedischen Kliniken getestet werden.

Impfung feiert Wiederauferstehung

Fast schon tot gesagt feiert eine Impfung gegen die Alzheimer-Krankheit Wiederauferstehung. Zwar hatte eine vor nunmehr fünf Jahren mit 372 Freiwilligen durchgeführte Studie der Firma Elan abgebrochen werden müssen, weil sechs Prozent der Geimpften Anzeichen einer Hirnhautentzündung entwickelten. In der Nachbeobachtung hat man jedoch festgestellt, dass die Impfstoffempfänger heute noch ein zwar geringfügig, aber eindeutig besseres Gedächtnis haben als diejenigen, die zum Vergleich nur eine Scheininjektion erhalten hatten. Laut Studienleiter Leon Thal von der University of California San Diego lag der Ausgangswert im Gedächtnistest MMSE bei 20 Punkten. Für die Impfstoffempfänger liegt er nun bei 13, für die Kontrollgruppe bei 10. Unter den erfolgreich Geimpften müssten heute zwei Drittel (65 Prozent) rund um die Uhr gepflegt werden, in der Gruppe ohne den Impfstoff aber 95 Prozent. Die Daten seien aber noch unvollständig und man dürfe daraus keine Schlüsse ziehen, mahnt Thal.

Inzwischen prüft nicht nur die Firma Elan einen "entschärften" Impfstoff an Freiwilligen, sondern auch das Schweizer Unternehmen Novartis mit seinem Zürcher Partner Cytos Biotechnology sowie der US-Pharmakonzern Eli Lilly. Cytos erwartet erste Ergebnisse im kommenden Jahr. Laut Lilly-Vertreter Eric Siemers habe es unter den bislang 16 Empfängern des Impfstoffes keine Sicherheitsprobleme gegeben. Überdies schnellten die Mengen des Eiweißbruchstücks Aß im Blut um das 150- bis 600-fache in die Höhe. Dies wird als gutes Zeichen gedeutet, da schwer lösliche Klümpchen aus Aß im Gehirn von den meisten Experten als Hauptursache der Alzheimer-Demenz angesehen werden. Womöglich wirkt die Impfung also wie ein Staubsauger, der Aß aus dem Gehirn ins Blut holt, wo es vom Körper beseitigt werden kann. Der "Frühjahrsputz" für das Gehirn müsste aber für die meisten experimentellen Alzheimer-Impfstoffe häufig wiederholt werden, denn ihre Bestandteile zerfallen binnen weniger Wochen. Abgesehen davon, dass der Nutzen der neuen Impfstoff-Kandidaten sich erst in den kommenden Jahren zeigen wird, ist noch völlig unklar, ob und wie solche eine Strategie finanziert werden könnte.

Michael Simm



Letzte Änderungen: 09.01.2007