Editorial

Nieder mit der
Publikationsflut

(11.01.2024) Der Schweizer Nationalfonds übernimmt nicht länger die Kosten für die Publikation von Open-Access-Artikeln in Sonderausgaben. Warum nicht?
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Special Issues sind umstritten. Traditionelle Verlage wie Elsevier, die Springer Nature Group und John Wiley & Sons publizieren sie nur im einstelligen bis knapp zweistelligen Prozentbereich ihrer Gesamtpublikationsleistung. Beim Basler Multi­disciplinary Digital Publishing Institute (MDPI) und dem Lausanner Verlagshaus Frontiers Media hingegen machen Artikel in Sonderausgaben 88 beziehungsweise 69 Prozent der veröffentlichten Manuskripte aus (arXiv: 2309.15884). Das summierte sich 2022 auf insgesamt 350.000 Publikationen und Einnahmen in Höhe von 430 Millionen Euro für MDPI und 185 Millionen Euro für Frontiers Media.

Beide Herausgeber stehen daher trotz Peer-Review-Verfahren oft in dem Ruf, eher Verlage der Quantität als der wissenschaftlichen Qualität zu sein. Ihre Spam-E-Mails, ihr Übereifer bei der Gründung neuer Journale sowie regelmäßige Negativschlagzeilen deuten auf ein Geschäftsgebaren in der Grauzone seriöser Verlagsarbeit hin. Vor allem ihre Sonderausgaben gelten als mitverantwortlich für die Publikationsflut und die Replikationskrise des Wissenschaftsbetriebs. Zum Vergleich: Marktführer Elsevier erwirtschaftet mit jährlich etwa 900.000 Artikeln einen Umsatz von etwa drei Milliarden Euro.

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Kritischer Blick aus der Schweiz

Allerdings bieten Special Issues gewisse Vorteile: Sie ermöglichen es, das Wissen des digitalen Zeitalters in Themenkomplexen zu organisieren statt in verstaubten Zeitschriften mit ihren vier bis 24 Standardausgaben pro Jahr. Auch Laborjournal kam nach nüchterner Analyse zu dem Schluss, dass Verlage wie MDPI mit ihren unorthodoxen Methoden an der Vorherrschaft konventioneller Verlage und ihren jährlichen Gewinnen von – im Fall von Elsevier – einer Milliarde Euro rütteln (siehe dazu „Der MDPI-Verlag – Wolf im Schafspelz?“ sowie zur Sonderheftflut „Sind Sonderausgaben Fluch oder Segen?“).

Kritischer sieht es der Schweizer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF). Das Pendant zur Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt jährlich über 8.500 Wissenschaftler und Forscherinnen mit rund 800 Millionen Euro. Forschende, die vom SNF gefördert werden wollen, müssen ihre Ergebnisse in Open-Access-Zeitschriften veröffentlichen. Während der SNF 2018 zusätzlich zu regulären Manuskripten die Publikationskosten für 33 Artikel in Sonderausgaben übernahm, waren es 2022 bereits 315 derartige Veröffentlichungen.

Ab Februar 2024 soll damit Schluss sein. Künftig will der SNF Forschungsgesuche weniger auf Basis veröffentlichter Artikel als vielmehr anhand der wissenschaftlichen Relevanz und Originalität von Projektanträgen beurteilen. Neben externen und internen Peer-Review-Runden sollen ein Bayessches Ranking-System und ein Lotterieverfahren im Evaluationsprozess eine Rolle spielen (Stat Public Policy, 9(1): 110-21).

Mangelhaft und uneinheitlich

Als Teilmaßnahme wird der SNF die Article Processing Charges (APC) für Manuskripte in Sonderausgaben nicht mehr übernehmen – aus zwei Gründen:
1) Qualitätsmängel: Sonderhefte gehen mit kürzeren Bearbeitungszeiten und geringeren Ablehnungsquoten einher, was die Publish-or-Perish-Kultur fördert. „Eine große Anzahl von Beiträgen möglichst schnell zu publizieren, bringt keinen großen Mehrwert“, schrieb der SNF Ende November 2023 in einer Pressemitteilung.
2) Uneinheitliche Bearbeitung: Jede Sonderausgabe wird von einem eigenen Redaktionsteam betreut. Die redaktionellen Abläufe können daher unterschiedlich sein.

Aber: Trifft das zweite Argument des SNF nicht auf alle Redaktionen jeglicher Fachzeitschriften zu? Mehr noch: Im Jahr 2016 variierten die Bearbeitungszeiten individueller Fachzeitschriften von MDPI und Frontiers noch zwischen zehn und 150 Tagen. Im Jahr 2022 benötigte kaum ein Journal beider Herausgeber mehr als 60 beziehungsweise 100 Tage für die Begutachtung von Manuskripten. Über Jahre haben MDPI und Frontiers ihre Verwaltungssysteme und Arbeitsabläufe optimiert, um ungenutzte Pufferzeiten möglichst auf null zu reduzieren. Deutet diese „Normierung“ von mehreren hunderttausend Editoren von derzeit 429 MDPI- und 207 Frontiers-Fachzeitschriften tatsächlich auf unterschiedliche Redaktionsabläufe hin, wie der SNF behauptet?

Schneller als die Konkurrenz

Tatsächlich liegen MDPI und Frontiers mit durchschnittlichen Peer-Review-Zeiten von 38 beziehungsweise 72 Tagen Wochen bis Monate vor allen anderen Verlagen. Üblicherweise dauert der Peer-Review-Prozess in der Medizin und den Naturwissenschaften 12 bis 14 Wochen (Scientometrics, 113: 633–50). Ob Forschende wohl zustimmen, dass es generell keinen Mehrwert bringt, wenn ihre Ergebnisse möglichst schnell der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen?

Kritische Stimmen deuten derart kurze Peer-Review-Zeiten als einhergehend mit oberflächlicher Begutachtung. Traditionell lehnen Fachzeitschriften etwa 60 bis 65 Prozent aller Manuskripte ab. Im Fall des weltgrößten Verlags Elsevier waren es laut Jahresbericht im vergangenen Jahr 68 Prozent. Reine Open-Access-Zeitschriften sind hingegen weniger streng, nur 50 Prozent der Einreichungen werden abgelehnt – unabhängig davon, bei welchem Verlag sie erscheinen (Prof de la Inf, 28(4)). Tatsächlich spiegeln MDPI und Frontiers diesen Durchschnitt wider. Laut ihren Jahresberichten 2022 verweigerten sie 50 beziehungsweise 47 Prozent aller Manuskripte eine Veröffentlichung.

Liegt das grundsätzliche Problem also eher in der Umsetzung der Open-Access-Idee? Sollten vielleicht nicht nur Special Issues vom SNF reglementiert werden? Letzteres würde aber auch den finanziellen Gewinn der traditionell etablierten Verlagsgrößen beschneiden. Was nehmen sich andere Forschungsförderer zum Vorbild?

Henrik Müller

Bild: Pixabay/jensenartofficial


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Letzte Änderungen: 11.01.2024