Editorial

Exotische Materie
und invasive Viren

(25.03.2024) In Göttingen arbeitet der frisch gebackene Jeantet-Preisträger Dirk Görlich in einem „extrem dynamischen Forschungsfeld“, dem Kerntransport von Protein- und RNA-Fracht.
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HIV-Kapsid durchdringt die Gelee-artige Permeabilitätsbarriere einer Kernpore

Am 17. April erhält Dirk Görlich, Direktor am Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, in Genf den Jean-Louis-Jeantet-Preis für Medizin 2024. Der Preis würdigt seine Forschung zum Mechanismus des Transports durch die Kernporen. Transporter schleusen dabei aktiv unter Energieverbrauch makromolekulare Fracht wie Proteine, mRNA und tRNA selektiv durch Poren in der Kernmembran in den Kern und aus dem Kern heraus. Das AIDS-Virus HIV, mit dem sich Görlich unter anderem beschäftigt, benötigt dagegen keine Transporter.

Eine besondere Rolle spielt beim Kerntransport die sogenannte FG-Phase, eine Art „smartes“ Sieb, das manche Makromoleküle passieren lässt, andere dagegen ausschließt. Die FG-Phase wird von den ungeordneten Domänen bestimmter Kernporenproteine gebildet, die Wiederholungen von kohäsiven Phenyl­alanin-Glycin (FG)-Dipeptiden enthalten, die sogenannten FG-Repeats. Sie lagern sich zu einer gelartigen Barriere zusammen. Wo Transporter, sogenannte Importine und Exportine, an eine FG-Domäne binden, lösen sich die FG-Verbindungen und der Transporter kann samt Fracht durch die FG-Phase gleiten. Noch während der Passage verschließt sich der Zugang wieder.

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Mini-Labore in der Zelle

Görlich und Mitarbeiter haben Muster von Aminosäuren auf Proteinoberflächen entschlüsselt, die entweder den Durchtritt durch die FG-Phase fördern und damit die Kernporenpassage beschleunigen (vereinfacht gesagt bei hydrophoben Oberflächen) oder abstoßend wirken. Entsprechende Varianten des grün fluoreszierenden Proteins (GFP) passierten dann Kernporen 500-fach schneller oder 30-fach langsamer als das Original. Die Ergebnisse haben Görlich und Co. 2018 in Cell veröffentlicht (174(1):202-17.e9).

„Die FG-Phase schien zunächst eine exotische Form biologischer Materie zu sein. Doch schon bald zeigte sich, dass sie ein ganz allgemeines Prinzip in lebenden Zellen repräsentiert. Sie war nur ein erstes Beispiel für sogenannte biomolekulare Kondensate, die sich auf eine ähnliche Art und Weise bilden und als ‚Mini-Labore‘ biochemische Reaktionen koordinieren und regulieren. Das ist derzeit ein extrem dynamisches Forschungsfeld“, erläutert Görlich.

Virenkapside als molekulare Transporter

Das HIV-Kapsid ist mit etwa 120 x 60 Nanometern zu groß, um mithilfe von Transportern durch die Kernporen in den Kern von Immunzellen zu gelangen. Der Kernporenkanal hat nur einen Durchmesser von 40 bis 60 Nanometern. Würde das HI-Virus mithilfe von Transportern durch die Kernporen geschleust, kämen nochmals mindestens 10 Nanometer hinzu – zu viel für die enge Kernpore.

Teams um Dirk Görlich und Thomas Schwartz vom Massachusetts Institute of Technology konnten zeigen, dass die Oberfläche des HIV-Kapsids direkt mit FG-Repeats der FG-Phase interagieren. Dadurch wird das HI-Virus in den Kernporenkanal gesogen und kann im Kern sein in DNA umgewandeltes Erbgut in das Wirtsgenom einbauen. Die Ergebnisse haben die Teams 2024 in Nature publiziert (626(8000):843-51). „Das HIV-Kapsid ist damit, neben den Importinen und Exportinen, eine ganz neue Klasse von molekularen Transportern“, so Görlich.

Bei aller Ähnlichkeit mit den zelleigenen Transportern unterscheidet sich das HIV-Kapsid in einem Detail grundlegend von allen bisher untersuchten Transporterklassen. Es kapselt seine Fracht, bestehend aus zwei RNA-Genomkopien, reverser Transkriptase und Integrase, vollständig ein und verbirgt so das transportierte Erbgut vor anti-viralen Sensoren im Zytoplasma.

Biochemische Saugeffekte

Görlichs Team ist es gelungen, verschiedene Arten von FG-Phasen im Labor nachzubauen. „Sie erscheinen unter dem Mikroskop als mikrometergroße Kügelchen, die normale Proteine vollständig ausschließen, das HIV-Kapsid samt Inhalt aber quasi einsaugen. Genau so wird das Kapsid in den eigentlichen Kernporenkanal hineingesogen. Das passiert auch noch, wenn zuvor sämtliche Transporter der Zelle entfernt wurden“, schildert Liran Fu, eine unter drei Erstautor:innen der Studie. Das HIV-Kapsid kann dabei verschiedene Arten von FG-Phasen durchqueren, vermutlich durch Kooperation von hunderten von FG-Bindestellen auf der Kapsidoberfläche. Wenn Görlich und Co. GFP-markierte HIV-Kapsid-Sphären in Maus-Oozyten injizierten, banden diese zunächst an die Kernhülle und erreichten innerhalb von 25 Minuten das Kerninnere. Das gleichzeitig injizierte rot fluoreszierende Protein tCherry oder eine Kapsid-Variante mit FG-Binde-Defekt konnten aber nicht in den Kern gelangen, sondern verblieben im Zellplasma.

Im Grunde beruht die Publikation in Nature auf einem Zufallsfund. „Die Teams von Martin Beck und Hans-Georg Kräusslich hatten 2021 in Cell spektakuläre kryo-elektronen­mikroskopische Bilder des HIV-Kapsids in der Kernpore veröffentlicht (184(4):1032-46.e18). Mein Kollege Thomas Schwartz hatte die Idee, dass man eine bessere Auflösung bei der Strukturaufklärung erhalten könnte, wenn man das HIV-Kapsid in der Kernpore mithilfe von Nanobodys fixiert. In einem Vorversuch wollten wir testen, wie wir das HIV-Kapsid in die Kernpore hineindirigieren können. Zu unserer Überraschung ging es von ganz alleine hinein“, berichtet Görlich. „Wir brauchten dann nur noch Kontrollen, um zu belegen, dass geschlossene Kapside und nicht kleinere Bruchstücke in der Phase akkumulieren.“ Die benötigten Assays für die neue Publikation hatten die Wissenschaftler bereits etabliert. Das Labor von Thomas Schwartz hat dabei in vitro HIV-Kapside zusammengebaut, die eine Markierung in Form von GFP enthielten.

Offene Fragen

Die Erkenntnis, dass das Kapsid die FG-Phase direkt durchquert, könnte in Zukunft beispielsweise für bessere AIDS-Therapien ausgenutzt werden. „Wir arbeiten daran, die Kernporenpassage des HI-Virus selektiv zu blockieren. Wir untersuchen auch, wie oft in der Evolution Viren diesen Weg der Kernporenpassage ausgenutzt haben. Dazu müssen wir erst in vitro den Zusammenbau der entsprechenden Virenkapside etablieren“, so der Forscher. „Für HIV ist das bekannt, für andere Viren ist das noch eine Herausforderung.“

„Auch an Fragen des Protein-Designs arbeiten wir. Importine und Exportine sind die hydrophobesten löslichen Proteine in der Zelle. Auch das HIV-Kapsid muss eine eigentlich stark hydrophobe Oberfläche haben, sonst würde es nicht so effektiv in die FG-Phase gesogen. Trotzdem bilden weder die Transporter noch die Kapside Aggregate. Uns interessiert das Prinzip dahinter“, berichtet Görlich.

Bereits in seiner Doktorarbeit hat er das Translokon, das Proteine durch die Membran des endoplasmatischen Retikulums schleust, aus gereinigten Komponenten rekonstruiert. Das Preisgeld des Jeantet-Preises will der Forscher einsetzen, um Kernporen in vitro aus definierten Komponenten zusammenzubauen. Bisher hat er hierzu Xenopus-Ei-Extrakte verwendet. „Ich denke, hier ist Geld gut angelegt“, so der Preisträger.

Bettina Dupont

Bild: MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften/Johannes Pauly (Kernpore) & Irene Böttcher-Gajewski (Porträt)


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Letzte Änderungen: 25.03.2024