Editorial

Frauenraub in Talheim? Der Fall ist nicht geklärt!

Es ging durch die Medien. "Mordende Steinzeitmenschen wollten Frauen rauben" (spiegel online), "Frauenraub führte zu Massaker" (Süddeutsche), "Steinzeitkrieger auf Menschenjagd" (welt-online). Stimmt das wirklich? Hubert Rehm hat Zweifel.

(09.06.2008) Die Meldungen beruhen auf einem Artikel von Alexander Bentley von der Durham Universität mit den Coautoren Joachim Wahl vom Landesamt für Denkmalpflege in Konstanz, Douglas Price und Tim Atkinson. Wer das Paper liest gewinnt allerdings den Eindruck, dass die Kollegen vom Spiegel, Süddeutsche etc. darin höchstens einmal geblättert haben.

Worum geht es?

1983 wurden in Talheim in der Nähe von Heilbronn die Knochen von 34 Leichen entdeckt, die vor 7000 Jahren in einer Grube verscharrt worden waren. Es handelte sich um sogenannte Linearbandkeramiker, die ersten Ackerbauern Europas. Unter den Getöteten befanden sich neun Männer, sieben Frauen, zwei Erwachsene mit nicht mehr bestimmbarem Geschlecht und sechzehn Kinder. Es handelte sich nicht um einen Friedhof: Die Personen waren mehr oder weniger gleichzeitig und mit Gewalt ums Leben gebracht worden: mit mehreren Schlägen von Steinbeilen und Keulen, meist von hinten rechts geführt, oder mit Pfeilen. Da keine Verletzungen des Rumpfes oder der Gliedmaßen entdeckt wurden, schloss man, dass sich die Getöteten nicht gewehrt hatten. Vielleicht waren sie im Schlaf überrascht worden.

Eine Untersuchung aus dem Jahr 1995 von epigenetischen Varianten der Gebisse (erbliche Zahnbesonderheiten, Position von Nervenaustrittlöchern etc.) deutete Verwandschaftsbeziehungen unter den Getöteten an, ließ sie aber als einheitliche Bevölkerung erscheinen.

Bentley et al. untersuchten das Verhältnis der Strontium-Isotopen 87-Sr/86-Sr und die Mengen der Isotope 18-O und 13-C im Zahnschmelz der Talheimer. Da Enamel in den ersten Lebensjahren gebildet wird und seine Zusammensetzung sich dann nicht mehr ändert, gibt der Isotopengehalt des Zahnschmelzes die Isotopenverhältnisse wieder, denen die Person in ihrer Kindheit ausgesetzt war. Das 87-Sr/86-Sr-Verhältnis variiert mit der Höhenlage: Im Neckartal liegt es zwischen 0,708 und 0,710, im Südschwarzwald zwischen 0,715 und 0,718. Der 18-O-Gehalt (relativ zum Ozeanwasser) im Regen hängt ebenfalls von der Geographie ab, zeigt in Deutschland zum Beispiel einen West-Ost-Gradienten. Der Gehalt von 13-C im Zahnschmelz wiederum hängt von der Diät ab, Vegetarier haben andere Werte als Fleischesser.

Nur von 20 Personen konnten vollständige Isotopenuntersuchungen gemacht werden: Von 7 Männern, 4 Frauen und 9 Kindern. Es fehlen also die Daten von drei Frauen und unter den 7 nicht untersuchten Kindern befindet sich zudem noch eine junge Frau von 15 bis 20 Jahren, also ebenfalls im gebärfähigen Alter.

Ein Plot des 87-Sr/86-Sr-Verhältnisses gegen den relativen 18-O-Gehalt trennte die 21 Personen in drei Cluster auf: 11 Personen (Gruppe 1) mit hohem relativen 18-O-Gehalt und niedrigem 87-Sr/86-Sr-Verhältnis, 5 Personen (Gruppe 2) mit niedrigem relativen 18-O-Gehalt und niedrigem 87-Sr/86-Sr-Verhältnis und 4 Personen (Gruppe 3) mit hohem 87-Sr/86-Sr-Verhältnis. Diese Gruppen werden von Bentley et al. als verschiedene Bevölkerungsgruppen interpretiert, wobei Gruppe 1 die indigenen Talheimer seien, weil sich nur in ihr Kleinkinder befinden. Die anderen Gruppen seien Besucher oder Handelspartner, die Gruppe drei vielleicht Hirten aus einer Berggegend.

Das interessante ist nun, dass sich in Gruppe 1 zwar Kleinkinder, aber keine Frauen befinden, die anderen Gruppen dagegen ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis aufweisen (Gruppe 2: zwei Frauen, ein Mann, Gruppe 3: zwei Frauen, zwei Männer). Bentley et al. vermuten, dass die Angreifer die Talheimer Frauen verschonten und in die eigene Gruppe aufnahmen.

Diese Hypothese ist plausibel – wasserdicht ist sie nicht. Die Daten von drei beziehungsweise vier Frauen fehlen ja, und dabei könnte es sich um Talheimerinnen handeln: Das ist sogar wahrscheinlich, angesichts des ausgeglichenen Geschlechterverhältnisses in Gruppen 2 und 3. (Es sei denn, man nimmt an, dass Polygamie herrschte und der Pascha mit mehreren Frauen auf die Reise ging). Aber mal angenommen Bentleys These stimmt. Dann fragt man sich, warum die Angreifer, wenn sie auf Frauenraub aus waren, nur die Talheimerinnen nahmen, die Frauen der Besucher aber totschlugen. Bis auf eine 50-Jährige waren alle im gebärfähigen Alter. Auch spricht die Tatsache, dass die Leichen in einer circa 2m x 3m x 2m tiefen Grube verscharrt wurden gegen einen Überfall: Wäre es nur um Frauenraub gegangen, hätte man die Leichen einfach liegen gelassen, anstatt sich die Mühe zu machen, zwölf Kubikmeter Erde auszuheben, bestimmt eine Schinderei mit den damaligen Werkzeugen.

Eine Unterhaltung mit Coautor Joachim Wahl zeigte, dass auch er nicht hundertprozentig von der Frauenraub-These überzeugt ist. Er interpretiert das Begräbnis der Leichen als Indiz dafür, dass es sich nicht primär um einen Frauenraub, sondern um eine Eroberung gehandelt habe. Die Angreifer hätten das Dorf – und vielleicht auch die Frauen – übernommen, sich also dort niedergelassen und daher die Leichen beseitigt. Allerdings hat er keine Erklärung dafür, warum die Kleinkinder getötet wurden. Die Indianer im Wilden Westen hätten bei Überfällen auf Siedlertrecks die Kleinkinder verschont und bei sich aufgezogen. Hana, unsere Redaktionsassistentin, hatte eine andere Erklärung: Die Talheimerinnen seien die Mörderinnen gewesen. Sie hätten einen feministischen Rappel bekommen und beschlossen die lästigen Familienpflichten mit der Steinaxt zu lösen, um sich anschließend in den Neckarauen ihrer Selbstverwirklichung zu widmen. Die fremden Frauen, glücklich verheiratet, hätten sich diesem Vorhaben verweigert und seien deswegen mit erschlagen worden.



Hubert Rehm



Letzte Änderungen: 11.06.2008