Editorial

"Der Krötenküsser": Lesenswerte Biografie, abstruse Phantasterei (Teil 2)

Gestern lernten wir den "Krötenküsser" Paul Kammerer kennen. Die weitere Lektüre eines Bestsellers aus dem Jahr 1971 offenbart, wie erschreckend wenig der Autor Arthur Koestler von der Evolutionstheorie verstand. Dafür verstand er es hervorragend, sein Unwissen in spannende Sätze zu kleiden und evolutionstheoretische Nebelkerzen zu zünden. Nachfolgend der zweite Teil des Artikels.


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Paul Kammerer und eins seiner Versuchstiere: Salamandra salamandra

(19. Oktober 2010 - Fortsetzung des gestrigen ersten Artikelteils)

 

Koestler – der ja auf den ersten 190 Seiten des „Krötenküssers“ immerhin eine extrem aufwändige Reportage zum evolutionsbiologischen „Fall Kammerer“ darbot – scheint damals (wie erwähnt, schrieb er das Buch 1971) keinen blassen Schimmer von den tatsächlichen Grundlagen der Evolutionstheorie besessen zu haben. Vielleicht war Koestler ja auch einfach nur Gesinnungskreationist (eher unwahrscheinlich) oder schlicht Lamarckist (wahrscheinlich), wollte dies aber nicht offen zeigen, um seine angebliche „Neutralität“ als Biograf im Fall Kammerer zu wahren.

 

Wie auch immer – was Koestler (in Nebensätzen) in „Der Krötenküsser“ und (in epischer Breite) im Epilog desselben Buchs über den angeblichen Inhalt der Darwin’schen Theorie absondert, ähnelt der unfairen und dazu kreuzdummen Propaganda, die man heute beispielsweise im Bible Belt zu hören bekommt: Da werden falsch verstandene Halbwahrheiten zu unlogischen Schlussfolgerungen verdreht, die weder Darwin noch seine Anhänger jemals so geäußert und auch nicht so gemeint haben.

 

Lächerlich ist auch, wenn Koestler beispielsweise in seinem Epilog behauptet:

 

„Auch zeitgenössische Biologen kommen heute immer mehr zu der Überzeugung, dass der Darwinismus allein die Entwicklung der Arten nicht zu erklären vermag.“

 

Seltene Ausnahmen als Regel verkauft

 

Mit Verlaub: Das ist ganz großer Bullshit – und das war auch 1971, als Koestler sein Buch schrieb, Bullshit. Damals, 1971, waren beispielsweise die Arbeiten des großen Evolutionsbiologen Ernst Mayr zur Artbildung (Systematics and the Origin of Species) seit fast 30 Jahren veröffentlicht und weithin akzeptiert. Damals, 1971, hatte man mittels der „Synthetischen Theorie der Evolution“ (von Mayr und anderen längst Darwins natürliche Auslese mit der modernen Genetik in Übereinstimmung gebracht. Damals, 1971, zweifelten die Biologen keineswegs „immer mehr“ daran, dass das Darwinsche Konzept die Entwicklung der Arten nicht erklären könne – ganz im Gegenteil! Darwins Überlegungen galten und gelten nach wie vor; sie werden und wurden allenfalls in Teilen erweitert beziehungsweise durch neue Erkenntnisse weiter gefestigt.

 

Ausnahmen gab und gibt es natürlich immer. Doch sollte man diese nicht zur Regel erheben. Koestler zitiert (wohlgemerkt: im Jahr 1971!) den Genetiker W. Johannsen, der 1923 spekulierte (man beachte: spekulierte!) ...

 

„Ist die gesamte Mendelsche Lehre vielleicht gar nichts anderes als die Feststellung ungezählter Unregelmäßigkeiten, Störungen oder Erkrankungen der Chromosomen, (...) ohne tieferen Wert (...)?“

 

...und stellt diese längst überholte Kritik als noch immer stichhaltig dar. Koestler reitet immer und immer wieder auf dem angeblichen „Konzept des blinden Zufalls“ herum, dem die Darwinisten irrtümlich anhängen würden. Als plakatives wie unpassendes Beispiel schildert er den vorgeblichen Irrsinn, „Ziegel willkürlich auf einen Haufen zu werfen“, um ein Haus zu errichten. So könne doch niemals ein Haus entstehen, kritisiert er. Doch, Herr Koestler, sehr wohl kann so ein Haus entstehen – vorausgesetzt, es bleiben zumeist nur diejenigen „Ziegel“ liegen, welche die Mauer höher und stabiler machen, während die anderen, falsch liegenden wieder zu Boden fallen. Das nennt man Selektion.

 

Selektion: was ist das?

 

Für Kostler scheint derlei biologisches Basiswissen ein böhmisches Dorf zu sein. Für die Evolutionstheorie absolut zwingende Begriffe wie „Selektionsfaktor“ oder „Selektionsdruck“ scheint der Bestseller-Autor, der im „Krötenküsser“ immerhin den Zwist des Lamarckisten Kammerer mit den schon damals vorherrschenden Darwinisten analysiert, noch nie gehört zu haben. Das ist ungefähr so, als würde ein Motorjournalist über das Benzinsparen schreiben, aber nicht wissen, was ein Ottokraftstoff oder eine Zapfsäule ist.

 

Nun gut: Wessen Geistes Koestler war, lässt bereits der (in der Neuauflage von 2010 wohlweislich weggelassene) frühere Untertitel erkennen: „Für eine Vererbungslehre ohne Dogma“ stand da einst zu lesen. „Für eine Vererbungslehre ohne Darwin“ war damit wohl gemeint.

 

Abdriften in die Parawissenschaften

 

Es führt zu weit, hier auf all die vielen, von Koestler absichtlich oder aus Unwissenheit missverstandenen Fachtermini einzugehen. Spätestens nach der Lektüre von Anhang 1 (Seite 209-223: „Das Gesetz der Serie“) ist jedenfalls klar: Arthur Koestler, dieser einst hochgeachtete Erfolgsautor, hatte keine Ahnung von Naturwissenschaft und Mathematik. Dafür hatte er ein Faible für die Esoterik.

 

In „Das Gesetz der Serie“ versucht Koestler, dem Leser Paul Kammerers jahrelange Beobachtungen über ein „kausalitäts-unabhängiges Prinzip der Serialität“ nahezubringen. Kammerer veröffentlichte zu diesem Thema 1919 gar ein Buch, in dem er sich über triviale, künstlich übersteigerte und für Kammerer „unerklärliche Zusammenhänge“ wie den folgenden aufregte:

 

„Am 17. Mai 1917 waren wir bei Schrekers eingeladen. Auf dem Weg dahin kaufe ich meiner Frau (am) Bahnhof Hütteldorf-Hacking Schokoladenbonbons. – Schreker spielt uns aus seiner neuen Oper Die Gezeichneten vor, deren weibliche Hauptrolle CARLOTTA heißt. Nach Hause gekommen, entleeren wir das Säckchen mit den Bonbons; eines davon trägt die (…) Aufschrift CARLOTTA.“

 

Um derlei Zufälle konstruierte Kammerer ein pseudowissenschaftliches Gedankengebäude, mit dem er beweisen wollte, dass sich in solchen „gesetzmäßigen Wiederholungen“ und „sinnvollen Zufällen“ ein universelles, bisher unbekanntes Naturgesetz zeigt.

Man könnte auch sagen: Zeitverschwendung. Weniger für Kammerer – der konnte Anfang des 20. Jahrhunderts nicht ahnen, dass nichts hinter derlei Zufällen steckt. Wohl aber für Koestler, der 50 Jahre nach Kammerer eigentlich inzwischen schlauer hätte sein müssen – es aber nicht war und stattdessen von der „quasi-messianischen Botschaft Kammerers“ schwärmt, statt dessen Gesetz der Serie als das zu bezeichnen, was es auch 1971 schon war: Bullshit.

 

Mystiker Koestler

 

Kein Wunder: Koestler war nicht nur Erfolgsautor, sondern auch leidenschaftlicher Parapsychologie-Anhänger, fantasierte über „mystische Erlebnisse“, die er in einer Gefängniszelle gehabt habe und veröffentlichte abstruse Auslegungen der Quantenphysik, garniert mit angeblichen beziehungsweise verzerrt wiedergegebenen Zitaten berühmter Quantenmechaniker.

Angesichts dieser Neigungen erscheint es beinahe als Wunder, dass Koestler den „Fall Kammerer“ über weite Strecken so scheinbar neutral darstellt.

 

In Wahrheit scheint Koestler jedoch keineswegs neutral, sondern vielmehr ein Lamarckist reinsten Wassers gewesen zu sein. Manche seiner bizarren, halbgaren Gedankengänge würde man heute gar als kreationistisch bezeichnen.

 

Allenfalls könnte interessant sein, was der Standard-Wissenschaftsredakteur Klaus Taschwer unlängst in diversen Archiven über Paul Kammerer herausgefunden hat. Es würde den "Fall Kammerer" in neuem Licht erscheinen lassen, ist zu hören. Man darf gespannt  sein.

 

Ungelöster Fall Kammerer

 

Wie dem auch sei: Bis heute hat niemand Kammerers legendäre, mutmaßlich gefälschten Experimente wiederholt. Wenn Sie also ein wenig Zeit (rund zehn Jahre), genügend Talent (zur Kröten- bzw. Salamanderzucht) und private Mittel (öffentliche Förderung zu bekommen dürfte schwierig sein) mitbringen, so haben Sie die einmalige Chance, sich unsterblich zu machen.

 

Allerdings nur, falls es bei Kammerers Experimenten mit rechten Dingen zuging und Sie seine damaligen Behauptungen verifizieren können.  Andernfalls wird kein Hahn nach Ihnen krähen.

 

Winfried Köppelle



Letzte Änderungen: 04.03.2013