Editorial

Wo kommt die Labormaus her?

Das genetische Make-up unterschiedlicher Labormausstämme ist gleicher als gedacht: Egal ob schwarz, weiß, braun oder gescheckt, der Großteil der Versuchstiere geht auf eine einzige Hausmausart zurück.

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(30. Juni 2010) Seit rund 100 Jahren züchtet man Mäuse für Forschungszwecke. Pioniere in der Labormauszucht waren amerikanische Genetiker, unter ihnen Clarence Cook Little, der Begründer des Jackson Laboratory (Jax) in Bar Harbor, Maine, von wo heute Mäuse an Labore auf der ganzen Welt verschickt werden. Die ersten Mausgenetiker griffen für ihre Zucht auf sogenannte „fancy mice” zurück, Mäuse, deren Haltung und Kreuzung im viktorianischen England und in Amerika ein beliebtes Hobby war. Auf einige wenige dieser „fancy mice“ gehen die meisten der heute gängigen Labormausstämme, wie BALB/cJ oder C3HB/HeJ, zurück, berichteten Gary Churchill und Fernando Pardo-Manuel de Villena mit ihrem Team von der University of North Carolina at Chapel Hill in Nature Genetics (Epub 29.5.2011, Doi:10.1038/ng.847).

Um die Abstammung der Labormaus aufzuklären, erstellten die Forscher genomweite Haplotyp-Karten von 100 Inzuchtstämmen und 36 in der Wildnis gefangenen Mausstämmen. In den Genkarten sind verschiedene Varianten der Nukleotidsequenzen derselben Chromosomen verzeichnet. Unterschiede, die durch den Austausch einzelner Basenpaare im DNA-Strang zustande kommen, sind als SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms) markiert.


Der Genotypvergleich zeigte, dass die genetische Vielfalt der Labormäuse weit geringer ist, als die ihrer Artgenossen in freier Wildbahn. So stammen die Gene der Labormäuse zu 90 Prozent von einer einzigen Spezies ab, der westlichen Hausmaus Mus musculus domesticus. Die restlichen Gene gehen überwiegend auf die japanische Mausart M. m. molossinus  zurück. Über 97 Prozent des Genoms klassischer Labormäuse ließ sich auf weniger als zehn Haplotypen zurückführen, wie Churchill und seine Kollegen ermittelten. Die Gruppe untersuchte in der Studie auch 62 Labormausarten, die von Wildmäusen abstammen und eine größere genomische Diversität besitzen, als die klassischen Labormäuse, beispielsweise die Stämme CIM und MGA: Ihr Genom wies mit 45 Millionen SNPs weit mehr Punktmutationen in der DNA auf, als die klassischen Inzuchtstämme mit nur 12 Millionen SNPs.

„Die geringe Variationsbreite im Labormausgenom ist für viele Fragestellungen ein großer Vorteil, etwa wenn grundlegende biologische Prozesse untersucht werden sollen“, sagt Diethard Tautz, Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie in Plön, der die molekulare Basis der Evolution erforscht. Mit Hilfe von genomischen Hochdurchsatztechnologien spürt er mit seinem Team in Mäusen Gene auf, die an natürlichen Anpassungsreaktionen beteiligt sind.

Für andere Ansätze, etwa um den genetischen Ursachen menschlicher Erkrankungen, wie Diabetes oder Allergien, auf die Spur zu kommen, sind dagegen Versuchstiere mit höherer genetischer Vielfalt besser geeignet. „Wenn man sich für Phänotypen interessiert braucht man eine gewisse Diversität – schließlich muss man den Phänotyp erst einmal finden, bevor man ihn untersuchen kann“, so Tautz. Die geringe Diversität des Labormausgenoms bedingt auch noch ein weiteres Problem: Sie zeigen nicht immer dieselben Reaktionen wie Wildmäuse. „Immunreaktionen laufen in Labormäusen oft ganz anders als in Wildmäusen ab, da diese Vorgänge bei ihnen nicht in der gleichen genetischen Vielfalt abgebildet werden“, erläutert Tautz.

Um dieses Dilemma zu vermeiden züchten Churchill und Kollegen seit 2004 im Projekt Collaborative Cross aus Wildmäusen und klassischen Inzuchtstämmen neue Labormäuse, die sie auch für Genomanalysen in ihrer aktuellen Untersuchung einsetzten. Die gesammelten Mausgenomdaten der Studie vereinigten die Wissenschaftler in einem Online-Tool, dem "Mouse Phylogeny Viewer“. Mit seiner Hilfe können Forscher weltweit künftig die verwandtschaftliche Beziehung von Labormäusen in Stammbäumen ablesen, sowie das Auftreten bestimmter Allele – den unterschiedlichen Ausprägungsformen der Gene – in verschiedenen Mausstämmen verfolgen.

„Dies ist sicherlich ein wertvolles Tool um Experimente besser planen und auszuwerten zu können“, sagt Tautz. Er selber nutzt es mit seiner Gruppe jedoch selten, denn dem Evolutionsbiologen ist die genetische Vielfalt von Labormäusen zu klein: „Wir fangen daher Wildmäuse auf der ganzen Welt ein, deren Gene wir analysieren.“ Je mehr über das Genom von Labor- und Wildmäuse bekannt wird, desto leichter wird es Wissenschaftlern in Zukunft fallen, Versuchstiere für ihre Experimente zu wählen, die eine größere Nähe zum Wildtyp aufweisen und eine höhere genetische Vielfalt bieten.


Melanie Estrella
Bild: iStock/zoshyii



Letzte Änderungen: 04.03.2013