Editorial

Viel Wind um fünf Mäuse

Kommentar: Krebsmittel heilt Alzheimer – schön wär‘s!

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(13. März 2012) Es klingt wie ein Märchen: Ein seit dreizehn Jahren zugelassenes Krebsmedikament heilt die Alzheimersche Krankheit bei Mäusen binnen Stunden! Dies hätten US-Wissenschaftler jüngst entdeckt, ging Anfang Februar als Sensationsnachricht um die Welt. Das Hamburger Abendblatt etwa titelte: „Wirkstoff gegen Krebs stoppt Alzheimer bei Mäusen“ – und auf der anderen Seite des Atlantiks posaunte die Washington Post gar: „Cancer drug reverses Alzheimer’s disease in mice“.

 

Doch was steckt dahinter? Hat die jahrelange, bislang erfolglose Suche nach einem wirksamen Alzheimer-Medikament wirklich ein überraschend frühes und glückliches Ende gefunden?

Der Befund der Doktorandin

Auslöser für den weltweiten Presserummel waren Resultate einer Doktorandin aus Cleveland, veröffentlicht am 9. Februar in Science (10.1126/science.1217697). Zusammen mit zwölf Kollegen hatte Paige Cramer von der Case Western Reserve University School of Medicine folgendes herausgefunden: Das Krebsmedikament Bexaroten lässt β-Amyloid-Plaques verschwinden. Bexaroten ist seit 1999 in den USA und seit 2002 in Deutschland unter dem Handelsnamen „Targretin“ gegen das kutane T-Zell-Lymphom (eine Art von Hautkrebs) zugelassen.

Die Forscher hatten ihren an Alzheimer erkrankten Labormäusen das Mittel testweise mit dem Futter verabreicht. Bexaroten aktiviert im Mäusehirn den RXR-Rezeptor; diese Aktivierung wiederum bewirkt, dass mehr Apolipoprotein E (ApoE) gebildet wird. Dies, so mutmaßten die Wissenschaftler, könnte Alzheimer entgegenwirken. Warum?

ApoE spielt eine wichtige Rolle beim Abbau von Lipoproteinen; unter anderem ist es dafür zuständig, die für Alzheimer typischen Eiweiß-Klumpen (β-Amyloid) aus dem Gehirn zu entfernen. Bei Alzheimer-Kranken funktioniert ApoE oft nicht wunschgemäß; als Folge sammeln sich β-Amyloid-Plaques im Gehirn an. Diese sind neurotoxisch, bringen also Nervenzellen zum Absterben, was als Ursache für die typischen Symptome angesehen wird.

Die Gabe von Bexaroten, so die Hypothese der Amerikaner, sollte also – über die Aktivierung von ApoE – den Abbau der Alzheimer-typischen Eiweißklumpen fördern.

Aufgelöste Amyloid-Plaques

Dies sei in der Tat mit durchschlagenden Erfolg gelungen, vermeldeten Cramer et al.: Nach nur wenigen Stunden seien die Amyloid-Plaques bereits merklich geschrumpft („resulted in enhanced clearance of soluble A within hours“), und nach nur zweiwöchiger Behandlung hätten sie gar 75 Prozent aller Amyloid-Plaques zum Verschwinden gebracht.

Nicht nur das: Selbst das Verhalten der Nagetier-Probanden habe sich schlagartig gebessert: „Furthermore, bexarotene stimulated the rapid reversal of cognitive, social, and olfactory deficits and improved neural circuit function.“ Die Mäuse hätten die zuvor „vergessene“ Tätigkeit, aus Papierschnipseln Nester zu bauen, wieder aufgenommen. Auch ihr brach liegendes Riechvermögen habe zugenommen.

Kann Bexaroten also womöglich demente Alzheimer-Patienten heilen? Zumindest viele Patienten und deren Betreuer schienen dies zu glauben: „Families of Alzheimer’s sufferers clamor for cancer drug”, berichteten britische Medien nur wenige Tage später.

Sollte man Bexaroten aber tatsächlich an Alzheimer-Patienten ausgeben? Lieber nicht. Und zwar aus mindestens fünf Gründen.

Erstens sind die Ergebnisse der US-Forscher prinzipiell mit Vorsicht zu genießen – und zwar wegen der geringen Fallzahl. Aus der Bildlegende des Papers geht unter anderem hervor, dass die Ergebnisse der einzelnen Experimente von jeweils fünf Versuchstieren stammen. Von der statistischen Aussagekraft her sind die Versuche also bedeutungslos.

Zweitens sprechen wir von Mäusen – und was im Mausmodell funktioniert, muss am Menschen noch lange nicht funktionieren. „Mice tell lies“ zeigt sich auch bei Alzheimer-Studien immer wieder.

Heftige Nebenwirkungen

Drittens ist das synthetische Retinoid-Analogon Bexaroten kein Zuckerschlecken. Es erhöht den Cholesterinspiegel, senkt die Konzentration von Leukozyten und Schilddrüsenhormonen, verursacht allergischen Hautausschlag, Juckreiz und Kopfschmerzen. Nicht gerade das, was man sich für eine längerfristige Behandlung wünscht. Frau Cramer behandelte ihre Mäuse bis zu 90 Tage lang mit Bexaroten, um die erwähnten kognitiven und sozialen Verbesserungen zu erzielen. Wie lange diese Bestand hatten, oder ob es gar zu Rückfällen kam, wird im Artikel nicht erwähnt.

Viertens sollte man grundsätzlich höchst skeptisch sein, wenn es um die mutmaßliche Wiederherstellung verlorener geistiger Fähigkeiten geht, sei es durch adulte Neurogenese oder durch sonstige (beispielsweise synaptische) Effekte. Würden sich die sensationellen Mäuse-Ergebnisse der US-Forscher beim Menschen bestätigen, wäre Frau Cramer eine Top-Kandidatin für den nächsten Medizin-Nobelpreis.

Und fünftens hat man bei mit Bexaroten behandelten Menschen noch nie Gedächtnis-steigernde Wirkungen beobachtet – obwohl das Präparat seit 13 Jahren in 26 Ländern als (Krebs-)Medikament verwendet wird und es die größtenteils betagten Patienten jahrelang einnehmen.


Fazit: Das mutmaßliche Wundermittel hält nicht annähernd, was die mediale Hysterie verspricht. Wunder gibt‘s halt doch nur im Kino.

 

 

Winfried Köppelle
Bild: Gortincoiel / photocase.com

Dieser Text ist in Laborjournal 3/2012 erschienen.



Letzte Änderungen: 26.03.2012
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