Editorial

Subjektive Realitäten

Mit der Wahrnehmung der Realität ist es so eine Sache. Wenn etwa Biotech-Branchenexperten ihre persönlichen Wahrnehmungen der aktuellen Wirtschaftslage veröffentlichen, so hat dies zuweilen paradoxe Ergebnisse zur Folge.
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(17. Mai 2013) Wenn der Laborjournal-Redakteur am helllichten Tag glaubt, er träume, so ist nicht immer sein mangelnder Nachtschlaf schuld. Es kann auch eine E-Mail sein, so eine wie beispielsweise am 17. April um 11:02 Uhr in sein Postfach plumpst. Sie trägt den Betreff Biotechnologie mit Rekordumsatz und Mitarbeiterplus. Absender war eine gewisse Sandra Wirsching im Auftrag des Online-Portals Biotechnologie.de – und damit verlängerter Arm des Bundesforschungsministeriums.

Eitel Sonnenschein in Biotechland ...

Tenor der in enthusiastischem Tonfall gehaltenen Botschaft Frau Wirschings ist, dass es der Biotechnologie hierzulande einfach blendend gehe. Wir zitieren aus ihrem Schreiben:

Mehr Umsatz, mehr Mitarbeiter, mehr Firmen – die wirtschaftlichen Kennzahlen der deutschen Biotechnologie-Branche haben sich im Jahr 2012 deutlich nach oben entwickelt. Auch das Finanzierungsumfeld hat sich erholt, wenngleich nur wenige Firmen den Zugang zu Kapital gefunden haben. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind erneut deutlich unter der Milliardengrenze geblieben. Die Attraktivität der deutschen Unternehmen zeigt sich (...) durch einen Rekordwert an Übernahmen. Neugründungen gab es so viele, wie seit zehn Jahren nicht mehr.

In diesem Stil geht es noch eine Zeitlang weiter. Mehr, mehr, mehr! Attraktivität! Rekord! Wachstum! Erfolge! Rendite! Wow!!!

Alles eitel Sonnenschein in der biotechnologisch verclusterten Republik?

Von wegen. Nur 23 Minuten später, um 11:25 Uhr an diesem seltsam irrealen Mittwoch, plumpst eine weitere E-Mail ins Postfach und verhagelt abrupt das sonnige Biotech-Wetter. Dieses Mal ist der Absender die deutsche Abteilung des internationalen Beratungskonzerns Ernst & Young (E&Y); der Titel ihrer tieftraurigen Botschaft lautet: Deutsche Biotech-Branche muss umdenken.

Na hoppla! Eben erst haben wir doch gelesen, wie prächtig die Lage ist – wieso muss die Branche da „umdenken“? Etwa damit die anderen Nationen überhaupt noch eine Chance gegen die so erfolgreichen Deutschen haben? Damit Obama am Ruder bleibt und unsere EU-Kumpels, allen voran die Griechen und Spanier, wirtschaftlich nicht noch mehr abgehängt werden? Oder wie?

... oder doch nur Misserfolge?

Lesen wir doch mal rein in das 140-seitige Schriftwerk namens Deutscher Biotechnologie-Report 2013, das die E&Y-Analysten ihrer Mail beigefügt haben:

Kaum Erfolge bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe, hohe Verluste, anhaltende Probleme bei der Kapitalbeschaffung: Die deutsche Biotech-Branche hat in den vergangenen Jahren vor allem mit Misserfolgen von sich reden gemacht. Die zunehmende Komplexität der Medikamentenentwicklung – hohe Entwicklungsrisiken, lange Dauer und extreme Kostensteigerungen – stellt Biotech-Unternehmen in diesem Bereich immer mehr vor nahezu unlösbare Probleme. Die Situation wird durch die anhaltende Finanzierungsschwäche der Branche zusätzlich erschwert. Das erklärt die nach wie vor rar gesäten Fortschritte bei neuen Therapeutika.

Oh, oh... Verluste, Probleme, Misserfolge – das hört sich nicht gut an, zumal die Autoren auch noch darüber klagen, dass es 2012 „keine Marktzulassungen“ gegeben habe und „Einzelerfolge (fast) nur durch die finanzkräftige Unterstützung seitens einiger weniger Privatinvestoren“ möglich seien. Die Verluste der Branche hätten weiter zugenommen (von 419 auf 490 Millionen Euro), die Forschungs- und Entwicklungsausgaben hingegen seien „mit nur noch 727 Millionen Euro um 7 % rückläufig“.

Immerhin, etwas Gutes finden sogar die Pessimisten (oder Realisten?) von Ernst & Young: Die Gesamtzahl der Unternehmen und der Mitarbeiter sei „annähernd konstant“ geblieben, die Umsätze sogar „geringfügig gestiegen“. Dies sei einem Umdenkprozess zu verdanken, „der die Unternehmen zunehmend weg von der Medikamentenentwicklung und hin zu Dienstleistungsmodellen im Umfeld des Therapeutika-Sektors“ geführt habe. Diese Metamorphose sollten die Firmen vorantreiben, sich „noch intensiver auf ihre eigentlichen Stärken als Technologieentwickler und Ideenlieferant“ konzentrieren. Eine solche Neuausrichtung könne „auch finanziell lukrativ sein, wie aktuelle Allianzen von Biotech-Unternehmen mit Pharma-, Diagnostik- oder Chemiekonzernen im vergangenen Jahr“ bewiesen hätten.

Unterschiedliche Basisdaten

Bei all dieser Diskrepanz verwundert nicht, dass sich auch die in den beiden Studien erhobenen Basisdaten enorm unterscheiden. So etwa beziffert Biotechnologie.de die Gesamtzahl der Biotechfirmen und der dort Beschäftigten mit 565 beziehungsweise 17.430; bei E&Y sind es mit nur 403 beziehungsweise 10.000 bedeutend weniger.

Das kritische Fazit des Hauptautors der E&Y-Studie, Siegfried Bialojan, lautet:

Ausbleibende Erfolge [bei der teuren und riskanten Entwicklung von Medikamenten] haben bereits zu einer negativen Bewertung des Biotech-Sektors geführt. Die Branche sollte sich daher mehr auf ihre eigentlichen Stärken besinnen – die Erforschung, Etablierung und Bereitstellung von Technologien.

Kein Grund zur Tristesse, Herr Bialojan! Kopf hoch! Die subjektive Realität der Biotechbranche kann man auch ganz anders sehen, wie Ihre Kollegen von Biotechnologie.de beweisen.

Winfried Köppelle

(Der Artikel erschien bereits in der aktuellen Laborjournal-Druckausgabe 5/2013 auf Seite40)



Letzte Änderungen: 31.05.2013