Editorial

Metagenomik der Verwesung

Mäuse-Kadaver sind ein fruchtbarer Lebensraum für allerlei Mikroben. Ein Journal Club der morbiden Art.
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(21. Oktober 2013) Sonntagabend, kurz nach acht, Tatort in der ARD. Der Kommissar stapft missmutig durch den nebligen Wald, eine Tasse Kaffee in der Hand, während sich der Gerichtsmediziner über eine unschön anzusehende Leiche beugt. „Wie lange liegt der Tote schon hier?“ fragt der Polizist. „Kann ich noch nicht sagen. Laborbefund abwarten!“ grummelt daraufhin der Pathologe.

Vom Verwesungszustand einer Leiche auf den Todeszeitpunkt zu schließen ist ein faszinierendes  Betätigungsfeld für abgehärtete Insektenkundler. Einige Krimi-Regisseure zelebrieren mit Genuss die Arbeit des entomologisch geschulten Gerichtsmediziners, der mit einer Pinzette Maden aus der Leiche zieht: “Der Mann ist seit mindestens zwei Wochen tot, Herr Kommissar”.

Solche Szenen sind nicht allein der Phantasie der Drehbuchschreiber entsprungen. Denn an Artenvorkommen und Entwicklungsstadien diverser Insekten kann ein forensischer Entomologe tatsächlich den Todeszeitpunkt recht genau abschätzen. Aber vielleicht bekommen bald auch Bioinformatiker und Mikrobiologen ihren eigenen Auftritt im Sonntagskrimi – sofern die „metagenomische Forensik“ hält, was sie verspricht.

Daten für die mikrobielle Uhr

Jessica Metcalf von der Universität Boulder (Colorado) und ihre amerikanischen Forscherkollegen berichten im Journal eLife über eine Proof of Principle – Studie, wonach Forensiker in Zukunft auch mit Genomdaten von Mikroben-Gemeinschaften arbeiten könnten. Mit diesen Daten wollen die Forscher nämlich eine “mikrobielle Uhr” erstellen, die Aufschluss darüber gibt, wie lange eine Leiche schon tot ist.

Metcalf et al. verbuddelten für ihre Studie 47 tote Mäuse in kleinen „Erdgräbern“ im Labor. Kein sehr realistischer Versuchsaufbau, wird der kritikfreudige Tatort-Fan einwenden. Denn Temperatur und Wetter sind im Labor viel konstanter als draussen im Unterholz. Aber für eine derartige Pionierstudie ist es sinnvoll, die Bedingungen erst einmal so standardisiert wie möglich zu halten.

In regelmässigen Abständen kontrollierten die Forscher die verwesenden Mäuse und nahmen mit einem sterilen Ohrstäbchen DNA-Proben auf der Haut, im Kopf und im Magen-Darm-Bereich. Auch in der Erde unter den Kadavern stocherten sie nach Mikroben-DNA.

Bakterien kommen, Bakterien gehen

167 Proben flossen in die Untersuchung ein, insgesamt knapp 3 Millionen bakterielle Gen-Schnippsel wurden sequenziert, die zu 4505 verschiedenen taxonomischen Einheiten gehören („Operational Taxonomic Unit“, OTU, sagen Forscher oft, wenn sie unsicher sind, ob alle diese Einheiten nach den Regeln der Taxonomie als getrennte Arten gelten können). 421 weitere OTUs ordneten sie eukaryotischen Mikro-Organismen zu, also Pilzen, Protisten oder Fadenwürmern beispielsweise.

Die zeitliche Auflösung dieses Datenbergs zeigt eines ganz deutlich: für die alteingesessenen Bakterien, die zu Lebzeiten der Maus im Darm und auf der Haut ein recht stabiles Habitat genossen hatten, ist das Ableben ihres Wirts ein apokalyptisches Ereignis. Im Laufe des Verwesungsvorgangs verändert sich die Artzusammensetzung der Mikroben-Gemeinschaft auf und unter der Leiche dramatisch.

Auf zwei Fragen kommt es aber besonders an, will man solche Metagenom-Daten eines Tages als forensisches Beweismittel einsetzen. Ist die Abfolge verschiedener Mikroben-Gemeinschaften auf dem Kadaver dynamisch genug, um daraus eine möglichst exakte „mikrobielle Uhr“ zu erstellen? Und ist der Ablauf halbwegs reproduzierbar?

Kadaver-Milieus

Die Ergebnisse aus der Untersuchung des Mäusefriedhofs im Labor sind da recht ermutigend. Den sichtbaren Verwesungs-Stadien konnten die Forscher jeweils charakteristische Mikroben-Gemeinschaften zuordnen. Einen besonders markanten Einschnitt in der Verwesungs-Ökologie fanden die Forscher nach dem sogenannten „Rupture“-Stadium, wenn die Bauchhöhle des Kadavers reißt. Vor diesem Ereignis dominieren diejenigen Bakterien, die im lebenden Organismus den Darmtrakt bewohnten. Anaerobe Gattungen wie Lactobacillus beherrschen dort die Szene. Sobald der Bauchraum offen ist, ändert sich dass Milieu im Kadaver dramatisch. Sauerstoff hat Zugang zum Gewebe und der pH steigt an, weil Ammoniak-haltige Flüssigkeiten austreten. Für die Artenvielfalt bedeutet das: Aerobe Bakterienarten übernehmen die Herrschaft in der toten Maus. Andererseits verschwinden Mikrobengattungen wie die Acidobakterien, die nur in saurer Umgebung gedeihen.

Auch bei den Eukaryoten gibt es einen klaren Gewinner des großen Fressens. Nach etwa 20 Tagen ist der Fadenwurm Oscheius tipulae der dominante Organismus im Mäusegrab. Sein massenhaftes Auftreten ist eine weitere verlässliche Markierung auf der Zeitskala der Verwesung.

Von Mäusen und Schweinen

Eine statistische Auswertung all dieser Datenpunkte über Artenreichtum und Organismenanzahl ergibt ein recht akkurates Gesamtbild – immer unter den kontrollierten Bedingungen dieses Laborversuchs, wohlgemerkt. Der Todeszeitpunkt der Maus ließ sich innerhalb des ersten Monats der Verwesung immerhin auf einige Tage genau bestimmen.

Das Standardmodell für die Verwesung menschlicher Überreste ist jedoch nicht die Maus, sondern das Schwein, dessen Physiologie besonders gut mit Homo sapiens vergleichbar ist. Eine andere Arbeitsgruppe hatte daher mit ganz ähnlichen genomischen Methoden verwesende Schweine untersucht (siehe Pechal et al. 2013). Die Studie erschien schon vor der Arbeit von Metcalf et al.. Einer der Gutachter des eLife-Artikels, Roberto Kolter von der Harvard Medical School, merkte deshalb an, dass diese andere Veröffentlichung der Mäuse-Studie vielleicht ein wenig den Wind aus den Segeln nimmt. Allerdings lief das Experiment bei Pechal et al. weniger kontrolliert und in kleinerer Stichprobenzahl ab. Die Daten aus beiden Studien scheinen im Großen und Ganzen kompatibel zu sein.

Aber: Wie die Mikroben-Gemeinschaften auf variable Umgebungsbedingungen reagieren, ob die Methode also praxistauglich ist, muss sich erst noch zeigen. Vorerst müssen also noch keine Krimi-Drehbücher umgeschrieben werden.



Hans Zauner

 

Foto: Montage aus Grafiken von Chrugel

& M. P. Ball (Lizenz CC0)

 
Quelle:
Metcalf et al, eLife 2013;2:e01104

 

Hinweis: eLife publiziert die Berichte der Gutachter, die recht informativ sind, wenn man tiefer in die Materie einsteigen will (nicht wortwörtlich gemeint). Einsehbar sind die Berichte über den Link „Decision Letter“.





Letzte Änderungen: 09.12.2013