Editorial

Manöverkritik der Kleinlibellen

(22.4.15) Männchen der Kleinlibellen-Art Mnesarete pudica tragen spektakuläre Luftkämpfe aus.  Kieler Forscher zeigen, dass sich die Kontrahenten während dieser Rivalitäten mit komplexen Strategien gegenseitig bewerten.
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Kämpfe zwischen Männchen um Reviere und die Gunst der Weibchen verlaufen oft erstaunlich friedlich. Obwohl viel auf dem Spiel steht. Wer zurücksteckt, geht vielleicht für eine Saison ganz ohne Nachwuchs aus. Die Auseinandersetzung folgt dennoch meist einem unblutigen, ritualisierten Ablauf mit einer Reihe von Eskalationsstufen.

Beispiel Hirsch: Erst wird um die Wette geröhrt. Wenn sich herausstellt, dass ein Hirsch besser röhren kann als sein Rivale (und damit den kräftigeren Körperbau hat), so verzichtet der Schwächere auf eine weitere Eskalation und tritt den Rückzug an.

Nur wenn das Gebrüll kein klares Ergebnis bringt, gehen die Hirsch-Männer erst zum Schaulaufen über, und später eventuell zum spektakulären direkten Kräftemessen mit den Geweihen.

Aber Wettstreit zur Einschätzung der eigenen Kraft und der des Rivalen gibt es nicht nur bei rivalisierenden Wirbeltier-Männern. Auch Insekten-Männchen der Kleinlibellen-Art Mnesarete pudica tragen ritualisierte Wettkämpfe aus – in Form spektakulärer Flugmanöver.

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Kämpfen oder aufgeben?

Und auch bei den Libellen ist die interessante Frage: Wie fällt eigentlich die Entscheidung, weiter zu kämpfen oder den Rückzug anzutreten? Lohnt sich ein Kampf oder ist der Rivale ohnehin stärker und eine Auseinandersetzung für den Schwächeren ein unnötiges Risiko, zumindest aber Verschwendung von Zeit und Kraft? Rhainer Guillermo-Ferreira und Kollegen vom Zoologischen Institut der Universität Kiel haben brasilianische Kleinlibellen im Freiland beobachtet, um die Entscheidungsstrategien während der Rivalenkämpfe besser zu verstehen (Naturwissenschaften, DOI 10.1007/s00114-015-1261-z).

Insbesondere wollten die Kieler Zoologen drei theoretische Modelle mit der Realität abgleichen:

1. Die Männchen könnten in erster Linie die eigene Kraft (im Fachjargon "Resource Holding Potential", RHP) einschätzen. Die Männchen würden diesem Szenario zufolge so lange wettfliegen, bis bei einem der Kontrahenten ein interner physiologischer Schwellenwert unterschritten wird, der signalisiert: Es ist Zeit aufzugeben, die eigene Kraft reicht nicht, um den anderen zu besiegen.

2. Andersherum könnten die Libellen auch in erster Linie die Stärke des Gegners einschätzen, zum Beispiel anhand optischer Merkmale wie Körpergröße und Pigmentierung.

3. Die Entscheidung über Aufgeben oder Eskalieren könnte aber auch auf wechselseitigen Interaktionen beruhen, bei der das Verhalten der Kontrahenten jeweils eine Reaktion auf das Verhalten des Gegners ist; also im Sinne spieltheoretischer Szenarien, wie sie der Evolutionstheoretiker John Maynard Smith als einer der ersten ausgearbeitet hat.

Um diese drei Modelle mit Daten aus dem Freiland abgleichen zu können, vermaß Guillermo-Ferreira die Morphologie von Sieger und Verlierer (als Maß für das RHP) und hielt jeweils fest, wie lange die Kämpfe dauerten. Insbesondere maß er auch die für die Männchen dieser Art charakteristischen roten Punkte auf den Körpern der Kontrahenten sowie die Transparenz der Flügel. Seine Annahme: Die Dauer der Flugwettkämpfe zwischen zwei Männchen korreliert entweder mit dem RHP des Verlierers (falls Szenario 1 zutrifft) oder des Gewinners (Szenario 2). Beruht die Einschätzung der Kraft auf wechselseitiger Einschätzung beider Opponenten (Szenario 3), so sollte der Kampf besonders lange dauern, wenn man gezielt möglichst gleich starke Männchen gegeneinander antreten lässt.

Flexible Strategie

Aber wie das mit theoretischen Modellen oft so ist, halten sich auch die Libellen nicht klar an ein einziges Szenario. Die Libellen in Guileremo-Ferreiras Feldversuchen wechselten nämlich je nach Situation zwischen verschiedenen Beurteilungs-Strategien und passten auch ihr Kampfverhalten entsprechend an.

Denn einerseits fanden die Forscher zwar eine positive Korrelation zwischen dem RHP des Verlierers und der Kampfdauer. Das passt zu Szenario 1, wonach die Libellen während des Kampfes vor allem die eigene Stärke beurteilen.

Dass die Libellen-Männchen aber auch den Gegner einschätzen, zeigte sich, als die Forscher vor ihren Feldversuchen die Pigmentierung der Männchen manipulierten. Trifft ein starkes Männchen auf einen erkennbar schwächeren Kontrahenten, wird eigentlich nicht lange gefackelt. Das starke Männchen verjagt das schwächere ohne großes Federlesen, auch zu Beißereien kann es dann kommen. Nur wenn zwei etwa gleich starke Männchen aufeinandertreffen, beginnen die Scharmützel erst einmal mit ritualisierten Drohverhalten, oft gefolgt von einem Flugwettstreit Kopf-an-Kopf.

Feldforschung mit Filzstift

Als die Zoologen nun die Pigmentierung schwacher Männchen künstlich mit rotem Filzstift intensivierten, zeigten die stärkeren Rivalen häufiger Drohverhalten, anstatt den eigentlich schwächeren Rivalen kurzerhand zu verjagen. Das zeigt, dass die Kleinlibellen-Männchen in der Tat die Pigmentierung des Opponenten beurteilen und die Kampfstrategie je nach Situation entsprechend anpassen. Dazu passt auch die Beobachtung, dass sich bei längeren Kämpfen immer wieder mal einer der Rivalen kurz vom Flieger-Wettstreit zurückzog – vielleicht, um die Lage neu zu bewerten.

Die Kieler Forscher folgern, dass die Männchen der Art Mnesarete pudica offenbar je nach Situation andere Bewertungsstrategien einsetzen. Haben sie es erkennbar mit einem schwachen Gegner zu tun, reicht die Information der Flügel-Pigmentierung des Rivalen aus, um das Verhalten festzulegen. Ist die Ausgangslage jedoch unklar und kommt es zu aufwändigen Flugmanövern, so wird auch die eigene Stärke laufend hinterfragt.

„Selbst Tiere mit einfachem Nervensystem wie die Kleinlibellen können komplexe Bewertungsstrategien zeigen“, folgert Guillermo-Ferreira.


Hans Zauner

Foto: Eine männliche Kleinlibelle (Mnesarete pudica) Copyright Stanislav Gorb



Letzte Änderungen: 08.06.2015