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Wo sind all die Bücher hin?

(26.4.15) Bücher spielen für Life-Science-Profis keine große Rolle mehr. Ein Verlust oder einfach nur die unvermeidbare Folge neuer Formen der Wissenskommunikation?
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Letzten Donnerstag war "Welttag des Buches". Eine gute Gelegenheit, einmal einen Blick in die Bücherregale in den Büros von Lebenswissenschaftlern zu werfen. Oft sieht man da alles mögliche: Papier-Stapel, Familienfotos, Erinnerungs-Kaffeetassen von Konferenzen, Labor-Maskottchen aus Plüsch – aber kaum Bücher.

Na gut, Zoologen und Botaniker sind schon noch stolz auf ihre voluminösen Monographien. Und nach Feierabend greift auch der eine oder andere Molekularbiologe zu einem anspruchsvollen populärwissenschaftlichen Sachbuch. Aber zumindest in den molekularen biologischen Disziplinen  spielen Bücher kaum noch eine Rolle für die "professionelle" Wissenskommunikation, von  Lehrbüchern für Studenten einmal abgesehen.

Ist das schade oder ist das egal?

Kommt drauf an. Denn Wissenschafts-Bücher gab und gibt es in verschiedenen Erscheinungsformen. Ein Buch-Typ, dem zurecht kaum jemand nachweint, ist der Sammel- oder Konferenzband.

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Keine Zukunft für den Sammelband

Jüngeren, digital sozialisierten Lesern muss man wohl erklären, was ein akademischer Sammelband ist (bzw. war), auch wenn diese Wälzer hier und da noch ein Schattendasein fristen. Der Dreh- und Angelpunkt eines solchen Buchprojekts ist ein idealerweise gut vernetzter Forscher, dessen Name als Herausgeber prominent auf dem Buchumschlag steht und der seine Kollegen anbettelt, sie mögen doch ein Kapitel zu seinem nächsten Buch beitragen. Oft ist der Anlass für das Werk eine Konferenz oder ein Symposium, und die Autoren der einzelnen Kapitel erstellen quasi eine schriftliche Zusammenfassung ihrer Vorträge.

Da für die einzelnen Autoren dabei wenig Ruhm und Ehre herausspringen, und nennenswerte Tantiemen auch nicht, ist es häufig ein endloses Gewürge, bis Herausgeber und Verlag die Kapitel eingesammelt und in veröffentlichungsreife Form gebracht haben. Oft ist so ein Buch schon veraltet wenn es endlich erscheint, kostet aber wegen der Mini-Auflage ein Vermögen.

Aber selbst für die wenigen Leser der speziellen Zielgruppe ist der typische Sammelband häufig nicht besonders hilfreich. Denn jeder Kapitel-Autor reitet doch zu gern sein eigenes Steckenpferd. Ein stimmiges Ganzes kommt bei so einem Werk vieler Köche jedenfalls selten heraus und das Buch von Anfang bis Ende durchzulesen ist daher meist weder besonders sinnvoll noch vergnüglich.

Zudem sind die einzelnen Kapitel dieser Sammelbände nicht über gängige Literaturdatenbanken wie PubMed auffindbar, anders als Übersichtsartikel in einer Fachzeitschrift. Und interessiert man sich nur für ein einzelnes Kapitel, kann man es nicht separat als PDF herunterladen, sondern muss den ganzen Wälzer kaufen.

Kurz, die überlegenen Möglichkeiten des digitalen Publizierens machen solche Schinken obsolet.

Spazierengehen und Bücher schreiben

Aber wie sieht es aus mit Werken einzelner Autoren? Früher markierten Biologen mit ihren Büchern Umbrüche und neue Zeitalter ihrer Wissenschaft. Ist von dieser Bedeutung wissenschaftlicher Bücher heute noch etwas übrig?

Einem, wenn nicht gar dem Beispiel für ein epochales naturwissenschaftliches Buchprojekt kann man in der englischen Grafschaft Kent nachspüren. Dort steht Down House, der Ort, an dem Charles Darwin über viele Jahre hinweg an seinem Werk "On the Origin of Species" schrieb. Unterbrochen nur von seiner Korrespondenz, gelegentlichen Besuchen und langen Spaziergängen im weitläufigen Garten, entwickelte Darwin in ländlicher Ruhe seine "gefährliche Idee" (wie Daniel Dennett das Prinzip der Evolution durch natürliche Selektion nannte).

Auch die weitere Ausformulierung der Evolutionstheorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und die Fusion von Erkenntnissen aus Genetik, Zoologie, Botanik und Paläontologie, ist markiert durch Bücher, die zwar nicht so bekannt sind wie Darwins Jahrhundertschrift, aber für die Forschung dennoch höchst bedeutsam waren:

Zu diesen einflussreichen Werken zählen zum Beispiel Theodosius Dobzhanskys "Genetics and the Origin of Species" (1937) oder später auch Stephen Goulds "Ontogeny and Phylogeny" (1977) und viele weitere.

Solche "lange Gedanken", die Türen zu neuen Forschungsprogrammen aufstoßen, werden in der modernen Biologie kaum noch zu Papier gebracht. Das hängt vielleicht mit der mangelnden Anerkennung für akademische Buchautoren zusammen. In der Zeit, die das Verfassen eines Buches verschlingt, könnte ein Forscher viele Paper schreiben – und das bringt für Karriere- und Förderchancen wesentlich mehr.

Unbelesene Experten

Natürlich schreiben Wissenschaftler auch heute noch Bücher; oft nach dem Ende ihrer aktiven Karriere, nachdem sie die Pflichten für Mitarbeiter und Labor abgegeben haben. Und Jahr für Jahr veröffentlichen tonangebende Magazine wie Nature und Science Listen mit den "Wissenschaftsbüchern des Jahres".

Aber diese Werke haben sicher nicht mehr den ganz großen Einfluss. Zugespitzt gesagt: Man kann heute in Disziplinen wie Molekularbiologie, Genomik oder Bioinformatik ohne Weiteres ein exzellenter Wissenschaftler sein, ohne jemals ein Fachbuch aus dem eigenen Forschungsgebiet gelesen zu haben.

Und wieder ist die Frage: Ist das schlimm oder ist das egal?

Ob man sich Wissen über ein gedrucktes oder digitales Buch aneignet, oder über einzelne Fachartikel aus verschiedenen Quellen, ist eigentlich gleichgültig. Und vielleicht befinden sich die Lebenswissenschaften gerade einfach nicht in einem Zeitalter der umwerfenden Ideen und überragenden Theorien, sondern in einer Epoche der großen Datensätze und Experimente, die im Wesentlichen die etablierten Konzepte der wissenschaftlichen Vorfahren unterfüttern und ergänzen.

Andererseits: Das Hamsterrad, in dem sich Forscher heute drehen – Daten produzieren, Paper publizieren, Anträge einwerben – lässt gerade den erfolgreichsten Wissenschaftlern kaum Gelegenheit, einmal einen Schritt zurückzutreten. Würden sie in ihrem Fachgebiet öfter mal nach links und rechts schauen und große Zusammenhänge überdenken, könnten sie vielleicht ganz neue Einsichten und mutige Hypothesen entwickeln – zum Beispiel in einem selbst verfassten Buch. Aber für so ein Unterfangen fehlen den von Performance-Indikatoren getriezten Lebenswissenschaftlern Zeit und Anreiz. Wer weiß, welche großartigen Ideen der Wissenschaft dadurch durch die Lappen gehen.

Hans Zauner

 

Illustration: © Africa Studio / Fotolia



Letzte Änderungen: 11.06.2015