Editorial

Ultrasensitive Isotherme Titrations-Kalorimetrie

von Hubert Rehm (Laborjournal-Ausgabe 04, 2000)


Der erste Schritt jeder biochemischen Reaktion ist die Bindung zwischen Molekülen. Zwischen Enzym und Substrat, Hormon und Rezeptor, Transkriptionsfaktor und DNA, Der simple Prozess der Bindung liegt also jeder Biochemie, jeder physiologischen Funktion, jeder Lebensäußerung zugrunde. Kein Wunder gibt es zahllose Methoden der Bindungsbestimmung: langweilige (und billige) Filter- und Säulchentests aber auch teure Wundergeräte, die mit Gold und arbeiten. Man erhält damit die Assoziationskonstante KD, die Zahl der Bindungstellen n, und - mit der Plasmon Resonanz - die kinetischen Konstanten kon und koff. Nachzulesen im "Experimentator Proteinbiochemie" Gustav Fischer Verlag, Seiten 29-69.

In den letzten Jahren hat sich zu diesen Methoden eine neue gesellt, die ultrasensitive isotherme Kalorimetrie (ITK). Ein ITK-Gerät misst die Wärme, die bei der Bindung freigesetzt (oder aufgenommen) wird und zwar winzigste Wärmemengen: µcal!

Das Experiment ist einfach. Das Bindungsprotein wird in die Probenzelle des Kalorimeters gegeben, der Ligand in eine Spritze. Bei konstanter Temperatur (isotherm!) drückt nun ein Motor kleine Aliquots aus der Spritze in die Probenzelle. Dabei wird gerührt und die Wärmeaufnahme oder -abgabe gemessen. Im Lauf eines Experiments werden mehrere Aliquots gespritzt und jedesmal wird ein Schuss Wärme frei. Das Ganze dauert etwa eine Stunde.

Dann wird ausgewertet. Keine Angst-. nicht mit Papier und Bleistift. Die Auswertung übernimmt die Software der Maschine. Sie liefert n, die Anzahl der Bindungsstellen, die Dissoziationskonstante K, und - das ist der Clou - eine Größe namens ΔH. ΔH ist die pro Mol Bindungsprotein umgesetzte Wärme, die Enthalpie, Sie erinnern sich - oder vielleicht auch nicht - ΔH hängt mit der freien Energie ΔG und der Entropie ΔS zusammen. Es gilt: ΔG = ΔH - TΔS. ΔG ist die Energie, die zur Bindung treibt. Sie ergibt sich aus der KD, nach ΔG = - RT ln KD. Kennt man also ΔH und die KD läßt sich ΔS berechnen.

Gut und schön. Aber was ist das wert? Antwort: Sie haben einen Zugang zur Anatomie der Bindung, zu Fragen wie:

  • Wie groß ist der Anteil an hydrophoben Wechselwirkungen?
  • Schnappen beim Binden zwei starre Gebilde ein, Beispiel Legosteine, oder ändert sich die Konformation?
  • Welche nichtkovalenten Bindungen machen die Bindung aus?
  • Werden bei der Bindung Protonen des Bindungsproteins auf den Puffer übertragen - und wenn ja, von welcher Aminosäure stammen diese Protonen?


Diese Fragen können herkömmliche Bindungsmethoden nicht beantworten. Zudem bietet die ITK technische Vorteile:

  • Eine Immobilisierung oder Markierung der Bindungspartner ist nicht nötig.
  • Sie können (theoretisch) die Bindung jedes Liganden an jedes Makromolekül messen, also Protein an Protein, Protein an DNA, Protein an Zucker etc..
  • Sie können bei verschiedenen Temperaturen (von 5-80 ºC) und verschiedenen pH-Werten messen.
  • Messungen bei verschiedenen Temperaturen liefern die Wärmekapazität ΔCp und damit die Temperaturabhängigkeit von ΔH.
  • Ein ITK misst den Wärmeumsatz. Wärme wird aber nicht nur bei Bindungsreaktionen umgesetzt, Sie können - prinzipiell - den Wärmeumsatz aller möglichen Prozesse messen: der Aufnahme von Transmitter in synaptische Vesikel, die ATP-Produktion von Mitochondrien etc.


Genug gelobt. Keine Methode ohne Nachteile heißt die Regel und die ITK macht keine Ausnahme:

  • Für eine Wärmemessmethode ist die ITK staunenswert empfindlich, dennoch braucht sie Riesenmengen an Protein. Ein Experiment verschlingt 10-100 nmol. Bei einem Molekulargewicht von 50 000 verbraten Sie also Milligramm! Solche Mengen opfert nur, wer das Protein in E. coli ernten kann.
  • Vernünftige Meßwerte für KD erhalten Sie nur, wenn die Konzentration des Bindungsproteins im Bereich des 10-100 fachen der KD liegt. Daher sind sehr feste Bindungen (KD < 1 NM) SCHWER ZU MESSEN. WARUM? BEI EINER KD von 0,1 nM können Sie höchstens 10 nM Protein einsetzen. Bei einem Volumen der Probenzelle von 1 ml entspricht das 0,01 nmol. Das liegt weit unter der Empfindlichkeitsgrenze der Geräte (ca. 1 nMol). Ist andererseits die KD sehr hoch, brauchen Sie riesige Konzentrationen an Bindungspartnern, damit die Fraktion, die bindet, nicht zu klein ausfällt. Sie messen dann auf einem Hintergrund von Verklumpungs- und Dispergierungswärmen herum und allein der Herr mag imstande sein, die Bindungswärme herauszuklabüsern.
  • Ein guter ITK kostet 160 000 DM und wenn Sie noch einen Differential Scanning Kalorimeter dazu haben wollen, müssen Sie 300 000 erbetteln.


Markierung unnötig

Soll man sich auf's Kalorimetrieren einlassen? Nun, Wärmemessungen sind leicht und schnell durchzuführen und geben Immer ein Ergebnis. Irgendeine ΔH muss ja jede Bindung haben. Das Problem liegt in der Auswertung, im themodynamischen Formelwesen. Wer gerne rechnet und mit Formeln spielt, der findet hier ein ebenso ideales wie endloses Betätigungsfeld. Bedenken Sie: Es gibt hundertausende von Proteinen, die Millionen von Bindungen eingehen. Die alle thermodynamisch zu charakterisieren und sich Gedanken dazu machen, das beschäftigt Sie und dutzende von Doktoranden bis an Ihr seliges Ende.

(mit freundlicher Unterstützung von Ilian Jelesarov und Hans Rudolf Bosshard)



Letzte Änderungen: 20.10.2004