Editorial

Angiogenese-Inhibitoren

von Winfried Köppelle (Laborjournal-Ausgabe 02, 1998)


Im dunklen Mittelalter wurden die Burgen raffgieriger Raubritter häufig belagert. Eine der wirksamsten Möglichkeiten, um die Strolche rasch zur Aufgabe zu zwingen, bestand darin, ihnen die lebensnotwendige Wasserversorgung abzuschneiden. Die moderne Krebsmedizin hätte gerne ähnliche Wundermittel. Wenn man den wuchernden Tumor von der lebensnotwendigen Blutversorgung abschneiden, oder gar die Neubildung von Gefäßen verhindern könnte, müßte er wie ein entmutigter Raubritter letztendlich kapitulieren.

Angiogenese ist die Neubildung von Blutkapillargefäßen, etwa nach Gewebsverletzungen oder während der Menstruation. Vom umgebenden Gewebe aus werden die normaler-weise ruhenden Endothelzellen zur Teilung angeregt. Dieser komplizierte Vorgang wird von einer Reihe positiver und negativer Regulatoren gesteuert. Deren Gleichgewicht ist bei Tumoren jedoch verschoben. Da ein wachsender Krebszellklumpen fortlaufend von neuen Kapillargefäßen durchzogen werden muß, werden verstärkt diejenigen Faktoren gebildet, die die Angiogenese fördern.



Letzteres behaupten zumindest Judah Folkman und sein Mitarbeiter Michael 0'Reilly vom Children's Hospital der Bostoner Harvard Medical School. Die beiden sind mittlerweile so etwas wie die Superstars der modernen Krebs-bekämpfung. In Folkmans Labors wurde 1994 mit dem 38 kDa-Protein Angiostatin der Stoff entdeckt, der "Tumoren zum Schmelzen bringt", wie die deutsche Presse etwas voreilig titelte.

Und wie soll das funktionieren? Angiostatin und sein erst vor einem guten Jahr entdeckter biochemischer Bruder Endostatin sind Hemmstoffe der Angiogenese. Nichts Aufregendes, sollte man meinen, man kennt mit Plättchenfaktor 4 oder Thrombospondin 1 bereits seit längerem Substanzen, die ähnlich wirken. Das Ungewöhnliche an Angiostatin: Es wird von Tumoren erzeugt und unterdrückt offenbar erfolgreich die Entwicklung von Tochtergeschwulsten. Wird der Primärtumor hingegen operativ entfernt, bleiben auch die Hemmstoffe aus, und das Metastasenwachstum setzt ein. Warum manche Tumoren in solch egoistischer Weise Angiostatin bilden - niemand weiß es. Genausowenig, wieso hingegen das eigene Wachstum nicht gehemmt wird. Man vermutet allerdings, daß neben einer relativ geringen Menge langlebigen Angiostatins (Halbwertzeit 2 1/2 Tage) eine viel größere Menge von kurzlebigen Angiogenese-Förderern produziert wird. Diese begünstigen das Wachstum des Primärtumors, sind aber zerfallen, ehe sie zu den Tochtergeschwüren gelangen.

Sensationelle Versuchsergebnisse der Bostoner sorgten im vergangenen Jahr dann für Aufsehen. 0'Reilly und seine Kollegen initiierten bei Mäusen künstliche Tumoren, indem sie menschliche Krebszellen einschleusten. Nach Angiostatin-Gabe schrumpften diese Geschwulste auf 5 bis unter 1% ihrer ursprünglichen Größe. Nebenwirkungen wurden von 0'Reilly nicht beobachtet, ebensowenig die Bildung einer Resistenz gegen den Signalstoff. Das Vorhandensein von Angiostatin wurde vor kurzem auch bei gesunden Menschen nachgewiesen, und erste klinische Tests erscheinen vielversprechend. Endostatin scheint ganz ähnliche Eigenschaften zu besitzen.

Da Angio- und Endostatin relativ einfach zugänglich sind, sind die Erwartungen der Öffentlichkeit enorm gestiegen. Angiostatin ist ein internes, 38 kDa großes Fragment aus Plasminogen, Endostatin das 20 kDa große, C-terminale Endstück aus Collagen XVIII. Manche Mediziner träumen bereits von der Antikrebs-Pille, mit der man Krebsgeschwulste einfach "aushungert". Dem stehen derzeit mindestens zwei Argumente entgegen. Erstens sprechen wir hier von Proteinen, die der Patient nicht einfach schlucken kann, sondern die injiziert werden müssen. Außerdem werden die Metastasen lediglich in einen "Schlafzustand" überführt, ohne ihr malignes Potential zu verlieren. Ob die neuen Wundermittel jedoch auch noch bei jahrzehntelanger Dauergabe wirksam bleiben, ist derzeit völlig unbekannt. Dennoch gibt es nicht wenige Fachkollegen, die meinen, daß Folkman sich so langsam an den Nobelpreis heranforscht.



Letzte Änderungen: 19.10.2004