Editorial

Wertmüll

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(21.03.2024) „Abfall“. Oder „Müll“. Immer wieder haben Forschende Dinge, die sie während ihrer experimentellen Prozeduren vermeintlich nebenbei erhielten, allzu schnell als solchen deklariert – und entsorgten ihn gleichsam aus Röhrchen und Kopf. Gar nicht selten lagen sie damit falsch.

Paradebeispiel ist, wie der Name schon sagt, die Junk-DNA. Nur weil deren Sequenzen keine Proteine codieren, tat man sie jahrzehntelang abfällig als Genom-Müll ab. Heute weiß man, dass in diesen nicht-codierenden Abschnitten dennoch vielfältige wichtige Funktionen bei Genregulation und Genomorganisation schlummern. Was sich nicht zuletzt dadurch ausdrückt, dass etwa drei Viertel aller bekannten genetischen Abweichungen, die uns krank machen können, in eben solchen „Junk“-Abschnitten liegen.

Oder wie war das mit den kleinen regulatorischen RNAs? Lange hatten die Spezialisten in ihren RNA-Gelen immer wieder „komische Signale“ nahe der Lauffront gesehen. Und immer wieder war deren Diagnose: Unspezifische Abbau-Produkte. Experimenteller Abfall also, der durch die Prozedur entsteht und demnach keinerlei biologische Funktion hat. Schließlich ist RNA ja auch deutlich instabiler als DNA, und RNasen lauern praktisch überall. Folglich dachten sie nicht weiter darüber nach ... Wer weiß, wie viele von ihnen sich letztlich mit der Hand kräftig vor die Stirn klatschten, als Ende der Neunzigerjahre klar wurde, dass so gut wie alle Zellen ganz gezielt solche kleinen RNAs produzieren – als Regulatormoleküle, um damit die Expression ihrer Gene feinzusteuern?

Ähnlich dürfte es seit einiger Zeit denjenigen Kolleginnen und Kollegen gehen, die lange Zeit extrazelluläre Vesikel als unbedeutenden Zellabfall abqualifiziert haben. Auch diese galten lange Zeit als „Schreddermüll“, den man zwangsläufig als Kollateralschaden bei der nicht immer schonenden Präparation von Zellen aus Geweben erhält. In vielen Fällen war das wohl auch so, allerdings dämmerte seit den Achtzigerjahren Teilen der Community, dass Zellen die kleinen Membrankügelchen auch gezielt zu bestimmten Zwecken in den extrazellulären Raum abschnüren – und nannte sie Exosomen. Bekannt sind inzwischen deren Rollen beim gezielten Transport von Biomolekülen zwischen Zellen sowie bei der Immunabwehr oder der Hautpigmentierung. Doch dies ist womöglich erst der Anfang der Geschichte, denn so richtig Fahrt aufgenommen hat die Exosom-Forschung erst vor knapp zwanzig Jahren (BMC Biol., doi.org/gh2cxk).

Bleiben wir bei den extrazellulären Vesikeln. Denn selbst wenn sie nicht derart systematisch als Exosomen von Zelloberflächen abgeschnürt werden, müssen sie nicht gleich reiner Abfall ohne jeglichen biologischen Einfluss sein. Im Gegenteil, wie beispielsweise eine Gruppe um Susanne Erdmann vom Bremer Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie gerade in ISME Communications (Vol. 3: 112) beschreibt: Nach deren Daten fungieren extrazelluläre Vesikel offenbar als Hauptvehikel für den horizontalen Gentransfer zwischen Meeresorganismen.

Mittels Datensätzen aus Mikrobiom-Untersuchungen von Nordsee-Proben fanden Erstautor Dominik Lücking et al., dass ein Großteil bakterieller DNA eben nicht „klassisch“ nach Infektion über Viren oder Virus-ähnliche Partikel von einem Organismus in andere transferiert wurde, sondern vielmehr über ins Meerwasser abgeschnürte extrazelluläre Vesikel (EV). Ihr generelles Fazit daher: „Wir haben neuartige und weit verbreitete EV-Produzenten identifiziert sowie quantitative Belege dafür gefunden, dass der EV-vermittelte Gentransfer eine bedeutende Rolle beim horizontalen Gentransfer (HGT) in den Weltmeeren spielt.“

Womit erneut ein Beispiel dafür geliefert wäre, dass man in der experimentellen Bioforschung die Begriffe „Abfall“ oder „Müll“ nicht zu schnell und nur mit Vorsicht verwenden sollte. Genauso wie es sich durchaus lohnen kann, bereits deklarierten und entsorgten Abfall nochmals zu durchwühlen. Er könnte sich als „Wertmüll“ entpuppen.

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