Editorial

Buchbesprechung

Daniel Weber




John Vaillant:
Der Tiger: Auf der Spur eines Menschenjägers. Ein dokumentarischer Thriller

Gebundene Ausgabe: 432 Seiten
Verlag: Karl Blessing Verlag (4. Oktober 2010)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3896673807
ISBN-13: 978-3896673800
Preis: 19,95 EUR

Sibirische Blutrache

Eines der besten Bücher, die der Rezensent je gelesen hat, ist ein ungewöhnlicher Krimi mit einem Raubtier als Täter und einem Wildhüter als Ermittler.

Viel zu selten haben Buchtitel einen wirklichen Bezug zu ihrem Inhalt. Mal liegt es schlicht an einer schlechten Übersetzung ins Deutsche, mal an den, gelinde gesagt, oft recht seltsamen Vorstellungen der Marketingmitar­bei­ter eines Verlags. Dies ist hier nicht so. Wenn man Der Tiger kauft, erhält man auch Tiger, und zwar 432 Seiten lang.

Im Buch des amerikanischen Schriftstellers John Vaillant ist der Tiger allgegenwärtig, auch wenn der Autor nicht immer direkt über ihn schreibt. Zwar steht der Tiger immer im Mittelpunkt der Erzählung, bleibt dabei aber trotzdem geschickt im Hintergrund. Wie ein Tiger auf der Jagd nach Beute – so wie im Jahr 1997: In den Weiten Sibiriens wird der Wilderer Wladimir Markow ermordet, aber er wird nicht nur getötet, er wird nahezu vom Erdboden getilgt. Der Mörder ist schnell identifiziert. Es ist ein Sibirischer oder Amur-Tiger (Panthera tigris altaica), die größte lebende Katze der Welt.

Die Titelschlagzeile der örtlichen Tageszeitung Komsomolkskaja Pravda lautet daher auch: „Das Gesetz des Dschungels – Tigerin rächt tote Junge“.

War Rache wirklich das Motiv für den Mord? Kann es bei einem Tiger so etwas wie „Rache“ überhaupt geben – ja, darf man gar von „Mord“ sprechen bei einem Raubtier, dessen Antrieb zu töten doch einzig und allein der Nahrungserwerb (und höchstens noch Selbstverteidigung) sein kann?

Der Wildhüter Juri Trusch wird beauftragt, den Fall aufzuklären.

Das hört sich nicht nur wie ein Krimi an, dass liest sich auch wie einer. Aber das Buch ist mehr als nur ein Krimi, es ist ein Sachbuch über die Flora und Fauna Sibiriens, ein Geschichtsbuch über den Werdegang der Sowjetunion beziehungsweise Russlands und eine soziologische Beobachtungsstudie der Einwohner Sibiriens inklusive ihrer Legenden und Mythen.


Ein Raubtier als „Mörder“?

Zwar schweift John Vaillant, ein in Kanada lebender Reportage-Journalist, gerne ausführlich ab, wenn er beispielsweise seitenlang über die Perestroika erzählt. Doch warum nicht? Vaillant ist ein meisterhafter Erzähler, dessen Sprache einfach mitreißt, und so wird es dem Leser nie langweilig. Zudem verliert er ihn ja nie aus den Augen, seinen Tiger. Der Rezensent glaubte beinahe zu spüren, wie ihn der Tiger beim Lesen beobachtete, geradezu als ob der Tiger seinem Opfer auflauerte.

Vaillant verknüpft in seiner Erzählung geschickt vergleichbare Sachverhalte, beispielsweise die Tigerjagd in Sibirien und eine Löwenjagd in der Serengeti, und arbeitet gekonnt ihre Parallelen und Unterschiede heraus. Alle beteiligten Personen werden vom Autor gut charakterisiert, so dass sie nicht anonym bleiben, sondern sehr lebendig wirken. Und man muss sich beim Lesen immer wieder ins Gedächtnis rufen: Die gesamte Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit!

Das Buch ist eines der besten Bücher die der Rezensent je gelesen hat, weil es eine nahezu perfekte Mischung aus Information und Spannung darstellt. Viele populärwissenschaftliche Bücher sind vollgepackt mit Fakten, die sich nicht gut lesen; vielen Krimis hingegen mangelt es an Spannung, weil sie keinerlei Dramaturgie bieten und daher vorhersehbar sind. Außerdem steht in Vaillants dokumentarischem Thriller mit dem Tiger ein Tier im Mittelpunkt der Geschichte, das ganz einfach faszinierend ist. Denn wie schreibt der Autor selbst auf Seite 259: Würde das Buch von einem Schwein handeln, wäre es nicht so interessant.

Hier irrt Vaillant allerdings: Eine Geschichte über ein wildes Hausschwein, das in den Weiten Sibiriens lebt und Menschen jagt, wäre bestimmt nicht langweilig. Nur ein verständnisvoller Verleger würde sich vielleicht nicht so schnell finden...


Nicht jedermanns Geschmack

Die hartnäckigen Skeptiker mögen in den Buchladen gehen und die Seiten 39 bis 44 lesen. Diese sind ein hervorragendes Beispiel für den gekonnten Sprachgebrauch Vaillants und beinhalten eine herrliche Beschreibung des Amur-Tigers und seines Lebensraums, die eigentlich nur noch von William Blakes gleichnamigen Gedicht The Tyger (from Songs Of Experience aus dem Jahr 1794) übertroffen wird.

Zugegeben: Vaillants Meisterwerk wird nicht Jedermanns Geschmack treffen. Dazu ist das Buch zu wenig konventio­nell und enthält zu viele unterschiedliche Themen und Erzählstränge. Doch gerade das macht seinen Reiz aus.

Das Taschenbuch erscheint übrigens im Heyne-Verlag am 8. Juni 2012. Legen Sie sich schon mal auf die Lauer!


Letzte Änderungen: 27.03.2012