Editorial

Buchbesprechung

Winfried Köppelle




P. D. James:
Tod im weißen Häubchen (Shroud for a Nightingale, 1971)

Taschenbuch: 301 Seiten
Verlag: Rowohlt (1981)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3499146983
ISBN-13: 978-3499146985
Preis: vergriffen (in Antiquariaten und online zwischen 0,25 und 4,40 Euro).

Tod im weißen Häubchen - Phenol ist keine Trinkmilch!

Die detailversessenen Kriminalkonstrukte der „British Lady of Crime“ liebt man – oder man findet sie todlangweilig.


P. D. James (1920-2014) gehört zusammen mit Agatha Christie und Dorothy L. Sayers zu den erfolgreichsten Krimi-Autorinnen Englands. Foto: Ulla Montan/Randomhouse

Naturwissenschaftlern wird nachgesagt, sie seien detailversessen. Pedanten halt. Mal ehrlich: Ganz falsch ist dieses Klischee nicht – eher sogar notwendig, denn exakte Naturwissenschaft ist ohne eine gewisse Detailversessenheit nicht möglich.

Gegen die große alte Lady des englischen Kriminalromans, Phyllis Dorothy („P. D.“) James, dürften die meisten Wissenschaftler dennoch notorische Schlamper sein. Baroness James, die vor genau einem Jahr in Oxford im 95. Lebensjahr verstarb, ist berüchtigt für unsagbar akribische Charakterisierungen; für Schauplätze und Protagonisten, bei denen kein Stäubchen und kein Häärchen unerwähnt bleibt. Da kann es schon mal eineinhalb Seiten dauern, ehe eine für den Fortgang der Handlung völlig nebensächliche Szenerie bis ins allerletzte Detail beschrieben ist und das eigentliche Geschehen einen zaghaften Schritt vorwärts machen darf.

Doch keine Angst. Wenn’s darauf an kommt und ehe der Leser einzuschlafen droht, lässt P. D. James das Grauen von der Leine. Auf leisen Pfoten schleicht es sich ins scheinbar so belanglose Geschehen – und offenbart sich unvermutet, jäh, brutal.

Phenol in der Magensonde

In ihrem auf Deutsch erstmals 1978 veröffentlichten Roman Tod im weißen Häubchen ist dies bereits auf Seite 16 der Fall. Da stirbt Heather Pearce, die junge und unbeliebte Schwesternschülerin, eines qualvollen Todes. Jemand hat ihr am Morgen vor der öffentlichen Nasogastralsonden-Vorführung eine Desinfektionslösung in den Sondenbeutel gefüllt. Statt Milch wird ihr Phenol eingeflößt. Dies ist ebenso fatal wie letal: Binnen weniger Minuten stirbt Pearce qualvoll an Speiseröhren- und Magenverätzung. Ihre Mitschülerinnen und die Lehrkräfte sind entsetzt – fragt sich nur, ob ehrlich oder vorgeblich.

Mord, makabrer Selbstmord oder Versehen, lautet also die Frage, die sich der ermittelnde Scotland-Yard-Beamte Adam Dalgliesh stellt. Zumal wenig später ein zweites Mädchen eines unnatürlichen Todes stirbt und das erste Opfer posthum als tückisches Erpresser-Luder entlarvt wird. Heimliche Liebschaften quer durch alle Geschlechter und Gesellschaftsschichten des morbiden Krankenhauses tun das Übrige, um die Handlung verwickelt, die Motive plausibel und die Aufklärung der Todesfälle kompliziert zu machen. Selbst Dalgliesh kann sich dem geheimnisumwitterten Charme der Schwesternschule nicht entziehen und verliebt sich ausgerechnet in... – doch dies soll hier nicht verraten werden.

Subtile Spannung

Action-liebende Leser werden den ruhigen, detailversessenen Stil von P. D. James und damit auch ihren vierten Roman zäh und langatmig finden. Auch mag manchen Leser das Fehlen einer heldenhaften Identifikationsfigur abschrecken (selbst der schweigsame, verwitwete Kriminalbeamte Dalgliesh ist alles andere als ein massentauglicher Publikumsliebling); auch wirken die Protagonisten in ihrer beinahe unwirklichen Distanziertheit eher unsympatisch. Doch warum wurde Tod im weißen Häubchen dennoch ein Erfolgsbuch, und warum haben sich die Bücher der „Königin des kunstvollen Kriminalromans“ bisher über zwei Millionen mal verkauft?

Es dürfte zum einen am logischen, gut durchdachten und präzise beschriebenen Plot liegen, der auf lästige Unwahrscheinlichkeiten und seltsame Zufälle verzichtet und auf den letzten achzig Seiten deutlich an Fahrt aufnimmt. Zudem kann bis zum Schluss gerätselt werden, wer der oder die Täter sind – zumindest der Rezensent lag lange falsch mit seiner selbst gestrickten Tathergangstheorie. Die Auflösung – sprich: der Grund für die Todesfälle – ist trickreich und überraschend, doch keineswegs abwegig. Und weil auf den dreihundert Seiten durchwegs eine subtile, nicht fassbare und doch das Nackenhaar aufstellende Spannung liegt (selbst auf Hauptermittler Dalgliesh wird ein Mordanschlag verübt), mag man das Buch einfach nicht vorzeitig zuklappen.

Die Lady weiß, wovon sie schreibt

P. D. James gehört neben Agatha Christie und Dorothy Sayers zu den drei großen Damen des englischen Kriminalromans. Und von diesen „British Crime Ladies“ weiß James wohl mit Abstand am besten, wovon sie schreibt: Immerhin arbeitete sie im zweiten Weltkrieg als Krankenschwester, war danach in der staatlichen Krankenhausverwaltung tätig und hatte ferner einen Arzt als Ehemann. Später war sie zwölf Jahre im britischen Innenministerium in der Abteilung Kriminalpolizei angestellt. Man kann also davon ausgehen, dass das handlungsmäßige Umfeld ihres Romans die Realität authentisch wiederspiegelt.

Die zeitlose Story des vorliegenden Romans könnte genausogut am Anfang des 20. wie des 21. Jahrhunderts spielen. Nach dem Erscheinen wurde er mit dem „Silbernen Dolch“ der English Crime Writers’ Association“ ausgezeichnet; das ist der Preis für den zweitbesten Kriminalroman des Jahres. Sieger im gleichen Jahr (1971) wurde übrigens der südafrikanische Gerichtsreporter James H. McClure mit seinem Krimidebut The Steam Pig, in dem er ein gemischtrassiges Polizistenduo in der Apartheid-geprägten Gesellschaft seines Heimatlandes ermitteln lässt.

Wer Geschmack am Stil von James gefunden hat, dem seien Eine Seele von Mörder (1963) sowie Der schwarze Turm (1975) empfohlen. Beide handeln ebenfalls im Mediziner-Milieu.




Letzte Änderungen: 05.12.2015