Editorial

Buchbesprechung

Winfried Köppelle




Leopold Mathelitsch & Sigrid Thaller:
Physik des Sports.

Gebundene Ausgabe: 198 Seiten
Verlag: Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA (7. Oktober 2015)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3527413049
ISBN-13: 978-3527413041
Preis: 24,90 Euro (gebundene Ausgabe)

Die unmögliche Reaktion des Torwarts

Warum Eishockeyprofis schwergewichtig, Skispringer aber magersüchtig sein müssen – und warum Fußballresultate eher statistischen Regeln als den Spielstärken der Mannschaften entsprechen.

Profisportler vollbringen Leistungen, von denen notorische Sofasitzer nur träumen können – auch ohne Doping, Schwalben und versteckte Elektromotoren. Wer’s nicht glaubt, möge einfach mal versuchen, freihändig zum Zigarettenautomaten zu radeln, fünf Meter auf den Händen zu gehen oder acht Stockwerke hochzujoggen und anschließend den Haustürschlüssel ins Loch zu stochern – alles Leibesübungen, an denen die meisten Sportschau-Gucker kolossal scheitern würden. Für Radprofis, Geräteturner und Biathleten ist derlei Kinderkram.

Die perfektionierten Bewegungsabläufe von Profisportlern sind das Ergebnis jahrelangen Trainings. Dahinter stecken Begeisterung und Selbstbeherrschung, enor­me Willenskraft sowie – ein Packen (Bio)Physik. Zwei Grazer, der jüngst emeritierte Physikdidaktiker Leopold Mathelitsch und die Biomechanikerin Sigrid Thaller, haben die faszinierende Physik des Sports in einem handlichen Büchlein in 19 Kapiteln beschrieben. Thematisch entspricht ihr Werk jenen 19 Fachartikeln, die die beiden ab 2006 für das Journal Physik in unserer Zeit verfassten. Sie spannen einen weiten Bogen, beginnend mit den diversen Ballsportarten übers Geräteturnen, den Wassersport samt Tauchen bis hin zum Skifahren, Judo und Reiten. Zu all diesen Disziplinen könnte man stundenlang bezüglich Flugkurven, Energiebilanzen, Drehimpulsen und Kurvengeschwindigkeiten referieren. Mathelitsch und Thaller fassen sich kurz und beschränken sich aufs Nötigste, ohne gleich in seichte Trivialität abzugleiten. Zumindest den sportinteressierten Rezensenten hielten sie so bei der Stange; Langeweile kam zu keiner Zeit auf.


München, 7. Juli 1974, 16:24 Uhr.

Fassbare Formeln

Physik ohne Formeln geht natürlich nicht. Demzufolge finden sich auf nahezu jeder Seite des Büchleins mindestens drei Gleichungen und eineinhalb Diagramme. Die sind aber größtenteils unkompliziert – selbst für mathematische Flüssigkeitsbehälter wie den Rezensenten. Wenn Sie wissen, wie man eine Wurzel zieht und einen Dreisatz löst, werden Sie in den meisten Fällen klarkommen.

Auf den ersten 48 Seiten klären Mathelitsch und Thaller erstmal die mechanischen und biochemischen Grundlagen: Hier geht’s etwa um Muskelleistung (Joule! Watt! ATP! Glykolyse!), um Ballreflexionsverhalten (Trägheitsmoment! Reibungskoeffizient! Newtonsches Bewegungsgesetz!) und um Wurfbahnen (Idealer Winkel! Flugkurven!).

Die Autoren räumen mit allerhand Legenden auf – zum Beispiel mit jener, dass der optimale Winkel beim Weitwurf oder Kugelstoßen 45 Grad betrage. Dies legt zwar die Schulphysik nahe, doch die Realität ist komplizierter: Die maximale Abwurfgeschwindigkeit – die ausschlaggebend für die Wurfweite ist – erreichen Kugelstoßer bei einem vergleichsweise flachen Abwurfwinkel von etwa 35 Grad. Dieser Winkel wiederum ist jedoch keineswegs optimal bezüglich der Flugbahn. Erst der Kompromiss zwischen möglichst hoher Abwurfgeschwindigkeit und idealem Winkel ergibt den optimalen Abstoßwinkel: Er beträgt – je nach Körpergröße des Athleten, die ebenfalls einen Einfluss auf die erreichbare Weite hat (20 Zentimeter größere Athleten bringen einen ungefähr ebenso großen Weitengewinn!) – zwischen 37 und 40 Grad.

Interessant ist auch der Einfluss der Anfangsgeschwindigkeit des Fluggeräts: Bei extrem langsamen Würfen beträgt der optimale Winkel beispielsweise nur 32 Grad; je temperamentvoller und weiter man wirft, desto mehr nähert man sich 45 Grad an.

Je langsamer, desto flacher

So ziemlich jeder Sportler kann einen praktischen Nutzen aus der Lektüre dieses Büchleins ziehen. Etwa Basketballer, die erfahren, dass rein rechnerisch die Treffsicherheit beim Korbwurf maßgeblich von der Abwurfgeschwindigkeit abhängt: Je langsamer der Sportler abwirft, desto eher wird er Punkte erzielen. Videoanalysen von Profis bestätigen dies: Nowitzki und Co. werfen in der Tat häufig mit minimalen Geschwindigkeiten. (Was auch an der dabei niedrigeren muskulären Anspannung liegt: Der Sportler zittert weniger beim Abwurf).

Oder Tormänner – die beim Elfmeter gar nicht „reagieren“ können, da die Flugzeit des Balls bis zum Tor dafür viel zu kurz ist. Ihnen sei daher empfohlen, die voraussichtliche Flugrichtung des Balls aus der Anlaufbewegung des Schützen abzuschätzen – so wie es legendäre „Elfmeterkiller“ wie Rudi Kargus (23 von 70 Elfmetern gehalten) und Robert Enke (10/23) vermutlich auch machten.

Der Schalldruckpegel beim Abschlag

Golfspieler wiederum sollten beherzigen, dass man mit brachialer Armkraft allein sein Eisen nie auf eine Schlägerkopfgeschwindigkeit von 200 km/h bringen wird. Dazu braucht es, lehrt dieses Buch, die Hilfe der Rücken- und Beinmuskulatur – sowie eine perfekte Rotationsbewegung. Und dass in der tee box der Gebrauch von Ohrstöpseln anzuraten ist: Profis erzeugen beim Abschlag potenziell gehörschädigende Schalldruckpegel von mehr als 130 dB im Abstand von 1,7 Metern.

Freizeitkicker wird übrigens interessieren, dass Kopfbälle definitiv gesundheitsschädlich sind – allerdings nur bei Untrainierten, Jugendlichen sowie unerwarteten Ballkontakten. Profis reduzieren die theoretisch auftretenden Beschleunigungen von bis zu 28 g (!) hingegen durch das Anspannen ihrer Nackenmuskulatur auf ungefährliche Werte. Ähnlich schädliche Beschleunigungen – bis zum 20-fachen des eigenen Körpergewichts – erfahren beispielsweise Geräteturner bei der Abgangslandung oder die Kniegelenke von Skifahrern.


Ihnen sind Bewegungsgesetze und Reibungskoeffizienten wurst: Schlachtenbummler bei einem Radrennen. Foto: wk

Das alles ist jedoch nichts im Vergleich zum Unterwassersport. Wer seine Augen, seine Lunge, sein Gehirn und sein Leben mal so richtig in Gefahr bringen will: der gehe tauchen!

Selbst Wettsüchtige ziehen praktischen Nutzen aus diesem Buch. Etwa jenen, dass Fußballresultate eher statistischen Regeln gehorchen als den Spielstärken der beiden Mannschaften. Dies liegt an der geringen Zahl der Tore pro Spiel: je weniger Tore fallen, desto größer ist die Chance, dass nicht die stärkere Mannschaft gewinnt. Fußball hat in der Tat den höchsten Unsicherheitsfaktor der Vorhersage unter allen Sportspielen. Anders ausgedrückt: Fußballergebnisse sind stark vom Zufall beeinflusst. Das hat zwar mit Physik nicht mehr allzu viel zu tun, ist aber dennoch interessant.

Wer gerne wettet, gar um Geld, sollte dies also überall sonst tun, nur nicht im Fußball – die Gewinnchancen sind etwa beim Basketball weitaus höher. Oder auch im Tennis: Hier gewinnt fast immer der objektiv stärkere Spieler.

Rekorde: Was geht und was nicht

Aufschlussreich ist ferner, was Mathelitsch und Thaller zum Thema „Rekorde und ultimative Grenzen“ schreiben – gerade angesichts der nicht enden wollenden Flut an Betrugs- und Dopingfällen. Kennt man die zeitliche Entwicklung eines Weltrekords, so kann man nämlich mit einer logistischen Funktion rechnerisch recht gut abschätzen, welche Rekorde Sportler der Art Homo sapiens grundsätzlich zu erreichen imstande sind.

Und siehe da – es ist keinesfalls so, dass beispielsweise Weltklassesprinter wie Usain Bolt ihre unglaublichen Zeiten nur mit pharmakologischer Hilfe erreichen könnten. Im Gegenteil: Bolts 100-Meter-Fabelweltrekord von 9,58 Sekunden, aufgestellt am 16. August 2009 in Berlin, ist laut Mathelitsch und Thaller keineswegs das Äußerste, was Menschen zu leisten imstande sind. Der ultimative Grenzwert im 100-Meter-Sprint betrage vielmehr 9,48 Sekunden. Eine andere Berechnungsmethode – nämlich die der „Extremwert-Theorie, angewendet von den holländischen Mathematikern John Einmahl und Jan Magnus – ergab für den 100-Meter-Sprint der Herren eine maximal mögliche Zeit von 9,29 Sekunden.

Anders ausgedrückt: Der perfekte und dabei dopingfreie Athlet der Zukunft ließe „Thunder“-Bolt genauso stehen wie jener derzeit seine chancenlosen Konkurrenten.

Dopingfrei möglich: 9,29 sec. ?

Die Extremwert-Studie der Holländer zumindest ist jedoch mit Vorsicht zu genießen – denn sie wurde von der Realität bereits widerlegt. Für den Marathon nämlich prognostizierte Einmahl im Jahr 2006 eine Minimalzeit von 2:04:06 Stunden. Der Kenianer Dennis Kimetto unterbot diese Marke 2014 beim Berlin-Marathon um mehr als eine Minute. War Kimetto also gedopt – oder sind derlei Berechnungen doch nur Milchmädchen-Statistik?

Dies können die beiden Autoren von Physik des Sports wohl auch nicht beantworten. Ihr Buch jedenfalls ist ein spannender, lehrreicher Einblick in die naturwissenschaftlichen Grundlagen der wichtigsten Nebensache der Welt.




Letzte Änderungen: 29.03.2016