Editorial

Wundversorgung im Reich der Ameisen

Nadine Scherenschlich


(21.03.2024) WÜRZBURG: Afrikanische Matabele-Ameisen pflegen verletzte Artgenossen nicht nur gesund, sondern stellen dazu notwendige Antibiotika auch selbst in ihren Nestern her. Was lässt sich von ihnen lernen?

Matabele-Ameisen (Megaponera analis) ernähren sich einseitig. Ausschließlich Termiten stehen auf dem Speiseplan der südlich der Sahara in Völkern mit rund 1.000 Tieren lebenden Stechameisen. Gehen die Insekten auf Nahrungssuche, schwärmen zunächst einzelne Späher-Ameisen aus und erkunden die Umgebung.

Finden sie einen der hügelartigen Termitenbauten, rekrutieren sie den Großteil ihrer Nestmitbewohner zu einem Raubzug: Kolonnen von bis zu 600 Ameisenkriegern marschieren dann zum Termitenstaat, um ihn zu überwältigen und getötete Termiten zurück ins Nest zu schleppen. Leicht machen es die Beutetiere ihren Angreifern natürlich nicht. Zwar sind Letztere mit einer Länge von 1,8 Zentimetern körperlich überlegen. Dafür verteidigen die kleinen, aber starken Termitensoldaten ihr Nest auf Leben und Tod. Üblicherweise erleidet ein Prozent der Ameisen bei einem Raubzug starke Verletzungen. Ein Fünftel dieser Verletzungen betrifft Gliedmaßen. Denn in ihnen beißen sich die Termitensoldaten mit ihren sklerotisierten Köpfen und Beißwerkzeugen bevorzugt fest (Ann Rev Entomol. doi.org/bp2dk3), wodurch die Ameisen häufig schon direkt im Kampfgeschehen Beine verlieren.

Afrikanische Matabele-Ameisen bei Rückkehr von Raubzug, Foto: AG Frank
Foto: AG Frank

Verletzte Ameisen sondern dann einen Pheromoncocktail aus Dimethyldi- und -trisulfid aus ihren Mandibeldrüsen ab und signalisieren ihren Kameraden damit ihre Notlage (Science. doi.org/gfwhbt). Ist der Raubzug abgeschlossen, winkeln verletzte Tiere ihre gesunden Beine an und lassen sich von Sanitäter-Ameisen zurück ins eigene Nest transportieren. Sind sie hingegen zu schwer verletzt, wehren sie sich gegen die Versorgung und ersparen ihrem Volk einen unnötigen Pflegeaufwand.

Erik Frank & Kollege beim Aufbau von Ameisennest in Labor, Foto: AG Frank
Erst brachten Erik Frank (rechts im Bild) und seine Kollegen Matabele-Kolonien in künstlichen Nestern im Labor der Feldstation unter. Dann setzten sie Termiten in einer Fütterungsarena aus, um das Raubzugverhalten der Ameisen auszulösen. Foto: AG Frank

Der Vorteil des Rücktransports: Dank einer wirksamen medizinischen Versorgung im Nest sinkt die Mortalität verwundeter M. analis um 90 Prozent (Nat Commun. doi.org/mhp2). Selbst bei schweren Verletzungen wie etwa dem Verlust von ein bis zwei Gliedmaßen können die Hexapoden lernen, genauso schnell wie ihre unversehrten Artgenossen zu laufen, und bleiben so produktive Mitglieder der Kolonie. Tatsächlich weisen ein Fünftel der für Raubzüge rekrutierten Ameisen ein oder zwei fehlende Beine auf (Science. doi.org/gfwhbt). Was sind das für außerordentliche Insekten, die eine derart funktionierende Krankenversorgung organisieren?

Auf der Krankenstation

Dieser Frage geht Erik Frank seit fast zehn Jahren an der Universität Würzburg nach. Während eines Aufenthaltes in der Comoé National Park Research Station der Elfenbeinküste beobachtete er als Doktorand zufällig das Wundversorgungsverhalten der Matabele-Ameisen und war sofort fasziniert. Als Postdoktorand kehrte er von 2018 bis 2021 zurück und stand dem mit einer Fläche von 11.500 Quadratkilometern größten Biosphärenreservat Westafrikas als Geschäftsführender Direktor vor. Seit 2022 leitet er am Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie der Universität Würzburg eine Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe und ist ganz auf staatenbildende Insekten spezialisiert: „Unser Ziel ist es, die Evolution von sozialer Wundbehandlung im Tierreich besser zu verstehen“, fasst er seine Forschung zusammen.

Dazu gruben Erik Frank und seine Arbeitsgruppe elf Ameisenkolonien – also jeweils etwa 1.000 Individuen – aus und brachten sie in künstlichen Nestern im Labor der Feldstation unter. Die Bodenoberfläche bedeckten sie mit Erde aus der Umgebung der Originalnester und fütterten die Kolonien mit Termiten der Art Macrotermes bellicosus, die sie in einer Fütterungsarena verteilten. Auch ließen sie die Laborfenster offen, um eine natürliche Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Tag-Nacht-Zyklus zu gewährleisten.

Die eigentlichen Experimente konnten beginnen: Um Kampfverwundungen von M. analis experimentell nachzustellen, verletzte Franks Team gesunde Ameisen gezielt durch einen sterilen Schnitt im Femur eines Hinterbeins. Dann infizierten sie die Wunden mit Bodenmaterial aus der Umgebung des Ameisennests oder behandelten sie mit steriler Kochsalzlösung. Tiere einer weiteren Kontrollgruppe separierten sie von ihrem Sozialgefüge und schlossen sie so von dessen medizinischer Versorgung aus.

Anschließend filmten die Tierökologen, was im Nest der Ameisenkolonie über die nächsten 24 Stunden passierte: Sanitäter-Ameisen wurden zu ärztlichem Fachpersonal. Erst säuberten sie die Wunden ihrer Artgenossen durch Lecken. Dann sammelten sie mit ihren Vorderbeinen Sekret aus ihrer Metapleuraldrüse, vermischten es mit ihrem Speichel und brachten das Gemisch prophylaktisch auf alle Wunden auf. Erik Frank erklärt begeistert: „Die Metapleuraldrüse ist eine Sonderbildung der Formicidae. Sie enthält Dutzende antimikrobielle Substanzen, mit denen die Stechameisen Infektionen aktiv bekämpfen.“ Tatsächlich fanden die Würzburger 41 Proteine im Sekret der Metapleuraldrüse: 15 Polypeptide unter ihnen ähneln Toxinen. Für acht weitere Proteine fanden die Forscher orthologe Proteine, die entweder für ihre antimikrobielle Aktivität bekannt sind wie zum Beispiel Lysozym oder zur Melanisierung bei der Wundheilung von Insekten beitragen. Eine Gaschromatographie-Analyse ergab 112 weitere organische Substanzen – teilweise erneut mit bekannten antimikrobiellen Eigenschaften. Eine derartig umfassende Nutzung von Antibiotika zur Behandlung offener Wunden war bisher für soziale Insekten unbekannt.

CT-Scan von Metapleuraldrüse, Illustr.: AG Frank
Die Metapleuraldrüse sitzt an den Seiten des dritten Thoraxsegments direkt vor dem Petiolus, also dem Stielchenglied als der beweglichen Verbindung zwischen Brustabschnitt und Hinterleib einer Ameise. Computertomographie (CT)-Scan: AG Frank

Infektionsdiagnostik

Und damit nicht genug: Die Ameisen gaben sich nicht mit einer prophylaktischen Anwendung des antimikrobiellen Sekrets ihrer Metapleuraldrüsen zufrieden. Auf späteren Visiten verteilten die Pflegekräfte ihr Sekret nicht mehr auf alle Wunden, sondern nur noch auf diejenigen, die sich entzündet hatten. Matabele-Ameisen können infizierte Artgenossen also von nicht-infizierten Nestmitgliedern unterscheiden. Wie? Die Biologen fanden heraus, dass die Hexapoden kutikuläre Kohlenwasserstoffe (CHC) zur Kommunikation untereinander nutzen. Bereits zwei Stunden nach einer Infektion unterschied sich das CHC-Profil eines infizierten Patienten von dem Profil eines nicht-infizierten Patienten, und zwar hauptsächlich in der relativen Häufigkeit bestimmter Alkadiene. Da derartige Veränderungen in CHC-Profilen im Allgemeinen durch unterschiedlich exprimierte Gene in den Fettkörpern von Insekten reguliert werden, analysierten die Würzburger deren Transkriptom. „Insgesamt veränderte eine Infektion die Expression von Hunderten von Genen“, erklärt Erik Frank. Unter ihnen konnten die Biologen bisher 24 Immunogene und zwanzig Gene des CHC-synthetisierenden Lipidmetabolismus identifizieren.

Doch vor welchen Mikroorganismen müssen sich Matabele-Ameisen überhaupt derart intensiv schützen? Zwei Stunden nach künstlicher Verletzung ihrer Hinterbeine wiesen Ameisen, die Bodenmaterial ausgesetzt waren, bereits eine zehnmal höhere bakterielle Belastung in ihrem Thorax auf als verletzte Individuen, die mit steriler Kochsalzlösung behandelt worden waren. Nach elf Stunden waren infizierte Ameisen sogar mit 100-mal mehr Bakterien belastet als ihre sterilen Artgenossen. Indem die Würzburger Tropenbiologen Bodenmedium auf Agarplatten kultivierten, konnten sie drei potenzielle Krankheitserreger isolieren: das endosymbiotische Bakterium Burkholderia sp. und seinen Pilzwirt Rhizopus microsporus sowie das Bakterium Pseudomonas aeruginosa. Während Burkholderia sp. und R. microsporus die Überlebensrate verwundeter Ameisen nicht signifikant verringerten, erwies sich P. aeruginosa als das letale Pathogen. Binnen 36 Stunden erhöhte es die Mortalität von M. analis auf 93 Prozent.

Somit stand nur noch die Antwort auf eine einzige Frage aus: Hemmt das Sekret der Metapleuraldrüse von Matabele-Ameisen das Wachstum von P. aeruginosa? Franks Arbeitsgruppe ließ die grünblauen Eiterbakterien in LB-Medium wachsen und quantifizierte ihre Wachstumskurven – in An- und Abwesenheit des Überstands homogenisierter Metapleuraldrüsen. Und tatsächlich: Waren Drüsensekrete vorhanden, wuchs P. aeruginosa um 25 Prozent schlechter.

Sanitäter-Ameise beim Untersuchen von verletzter Megaponera analis, Foto: AG Frank
Eine Sanitäter-Ameise (links) untersucht eine verletzte Megaponera analis (Mitte), in deren Bein sich eine Termite (rechts) verbissen hat. Foto: AG Frank

Antibiotika 2.0

Auch von anderen sozial lebenden Insekten sind antimikrobiell und fungizid wirksame Substanzen bekannt. Beispielsweise sterilisieren Wegameisen ihre Nester, indem sie pilzinfizierte Brut mit antimikrobiellen Sekreten vergiften (Elife. doi.org/gcssks). Ebenso schützen sich Bienen- und Wespenstaaten durch gezieltes kollektives Vorgehen vor Parasiten, indem sie antimikrobielle Peptide wie Royalisin an ihre Brut verfüttern und Brutzellen mit antimikrobiellen Sekreten imprägnieren (Curr Biol. doi.org/btgpkw).

Doch bei M. analis geht der Einsatz von Antibiotika weit darüber hinaus. Matabele-Ameisen wenden ihr Sekret sowohl prophylaktisch als auch therapeutisch an und stellen so sicher, dass stets ausreichend Individuen zur Nahrungsakquise zur Verfügung stehen und ihre Population fortbesteht. „Ihre Antibiotika stammen somit aus einem Kontext, der unserem eigenen sehr ähnlich ist“, erklärt Erik Frank. „Unsere Antibiotika stammen meist aus Pilzen oder anderen Mikroorganismen, die diese zum Beispiel zur Kommunikation produzieren, aber nicht zum Abtöten von Pathogenen. Ameisen dagegen heilen mit ihnen verletzte Artgenossen – genau wie wir es tun.“ Könnten Bestandteile des Sekrets der Matabele-Ameisen vielleicht der Infektionsprophylaxe im Menschen dienen?

Mittlerweile hat Erik Frank sein Augenmerk auch auf weitere Ameisenarten wie etwa Eciton spp. in Costa Rica gerichtet. Diese Wanderameisen behandeln ihre Verletzten sogar direkt am Ort der Verwundung. Zusammen mit seinem Doktoranden Juan José Lagos Oviedo interessiert ihn insbesondere die Frage, ob die Tiere zur Akutversorgung andere Substanzen produzieren als M. analis.