Editorial

Deuterium-Trick enttarnt Proteinfaltung - HDX-Massenspektrometrie

Mario Rembold


(12.12.2022) Mit der Wasserstoff-Deuterium-Austausch-Massenspektrometrie kann man die Faltung von Proteinen am Ribosom verfolgen. Denn nur H-Atome der Peptidbindung, die von außen zugänglich sind, werden durch Deuterium ersetzt.

Wer die Massenspektrometrie (MS) nur gelegentlich einsetzt, wird dazu mit einem auf MS spezialisierten Team kooperieren und muss nicht alle Details der Technologie verstehen. Für viele Fragen aus der Proteomik, insbesondere zu bereits bekannten Proteinen, existieren inzwischen gut etablierte Methoden. Um Massenspektrometrie-Experimente durchzuführen, kann man sich einfach an eine entsprechende Core-Facility wenden. Auch die Auswertung der erhaltenen Massenspektren sollte man erfahrenen Experten überlassen, die die Proteinzusammensetzung der ursprünglichen Probe mithilfe geeigneter Software rekonstruieren.

Wissen sollte man aber, dass die Massenspektrometrie zunächst nur Rückschlüsse auf Summenformeln zulässt. Und zwar, wie der Name verrät, anhand der Masse. Komplexe Moleküle mit unterschiedlichen Isomeren kann man aber nicht so einfach in das Gerät laden und erwarten, dass sie eindeutig identifizierbar sind – dazu muss man sich einige Tricks ausdenken. Proteine verdaut man in der Regel zu kleineren Peptiden, bevor sie massenspektrometrisch analysiert werden. Dabei gehen Informationen zur räumlichen Struktur natürlich verloren – und selbst von komplett gefalteten Proteinen würde man nur eine Summenformel erhalten.

274a
Die Faltungsprozesse naszierender Proteine sind äußerst komplex. Mit der Wasserstoff-Deuterium-Austausch-Massenspektrometrie werden sie sichtbar. Illustration: Gruppe Balchin

Mit der Wasserstoff-Deuterium-Austausch-MS (HDX-MS) kann man dennoch wichtige Informationen zur Faltung eines entstehenden Proteins sammeln. Um sich das Prinzip klarzumachen, lohnt sich ein kurzer Blick auf die Auswertung massenspektrometrischer Daten, etwa am Beispiel von Ethanol und Ameisensäure. Kohlenstoff hat die Atommasse 12, Sauerstoff 16 und Wasserstoff 1. Addiert man die Atommassen aus der Summenformel C2H2O für Ethanol, so kommt man auf 46. Den gleichen Wert erhält man aber auch für Ameisensäure, obwohl diese eine andere Summenformel hat, nämlich CH2O2. Das Massenspektrometer erfasst aber auch die feinen Abweichungen hinter dem Komma, die durch den Massendefekt im Atomkern zustande kommen. Je nach Anzahl der gebundenen Protonen ist die Bindungsenergie unterschiedlich hoch. Tatsächlich liegt die Molmasse für den Trinkalkohol bei 46,07 Gramm pro Mol, bei der Ameisensäure hingegen nur bei 46,03 (eigentlich berücksichtigt die im Periodensystem angegebene Atommasse auch den Anteil verschiedener Isotope, was wir in diesem Beispiel aber vernachlässigen können).

Fingerabdruck von Peptiden

Bei komplexen Molekülen führt die Summenformel also nicht zu eindeutigen Ergebnissen. Weiß man hingegen, dass man ein Proteinfragment vor sich hat, so müssen die Summenformeln zu den Aminosäuren passen, die in Frage kommen. Hier braucht man nicht jede chemisch mögliche Variante zu berücksichtigen. Außerdem existieren umfangreiche Bibliotheken zu typischen Massenspektren bekannter Proteine und Peptide, in denen man nach den „Fingerabdrücken“ der eigenen Proben suchen kann.

Will man aber die Faltung eines Proteins bei verschiedenen Bedingungen vergleichen, wird es kompliziert. Wäre die Röntgenkristallographie eine Möglichkeit? Ja, aber nur für Protein-Domänen, die sich kristallisieren lassen. Die meisten Proteine bleiben dabei außen vor, und an sogenannte intrinsisch ungeordnete Regionen in Proteinen kommt man mit der Röntgenkristallographie nicht heran. Gerade diese Abschnitte sind aber besonders spannend, wenn man unterschiedliche Faltungs-Optionen oder auch Zwischenstufen bei der Proteinsynthese besser verstehen will. Ganz zu schweigen von Krankheiten, die mit fehlgefalteten Proteinen einhergehen – etwa Parkinson und Alzheimer. Auch hier wäre es wünschenswert, Faltungszustände genau erfassen und vergleichen zu können.

Hier kommt der Deuterium-Trick der HDX-MS ins Spiel. Durch seine dreidimensionale Struktur und gegebenenfalls auch durch das Zusammentreffen mit weiteren Untereinheiten schirmt ein Protein einige Regionen von seiner Umgebung ab, andere liegen an der Oberfläche und sind von außen weiterhin zugänglich. Die Wasserstoffatome an den Peptid- beziehungsweise Amid-Bindungen der Aminosäuren sind nicht fest gebunden, sondern tauschen sich mehr oder weniger dynamisch und vom pH-Wert abhängig mit dem Milieu aus, das sie umgibt. Ist es basisch, können Hydroxidionen ein Proton am Stickstoff entfernen, der hierdurch mit einer negativen Ladung zurückbleibt. Erhöht man den pH-Wert wieder, bindet erneut ein Proton an den negativ geladenen Stickstoff.

Statt normales Wasser als Lösungsmittel zu verwenden, das zu annähernd hundert Prozent Wasserstoffatome mit der Atommasse 1 enthält, kann man ein Protein auch in einem Puffer mit schwerem Wasser lösen. Das darin an Sauerstoff gebundene stabile Wasserstoff-Isotop Deuterium (D) besteht aus einem Proton und einem Neutron. Löst man ein Protein in D2O, werden die Wasserstoffatome an den Amid-Bindungen gegen Deuterium ausgetauscht. Das Protein kann aber nur in Regionen Wasserstoffatome austauschen, in denen die Amide zugänglich sind. In gefalteten Domänen sind viele Stickstoffatome so gut abgeschirmt, dass keine Säure-Base-Reaktionen möglich sind. Je weniger Wasserstoff ein Protein gegen Deuterium austauscht, desto kompakter ist es gefaltet – und umgekehrt.

Mit der HDX-MS oder einfach HDX kann man sehr zuverlässig erkennen, wie viel Deuterium in einzelnen Peptiden enthalten ist. Einen Überblick über die Methode mit Angaben zu Reaktionsbedingungen und zur Kinetik liefert zum Beispiel ein 2020 erschienener Review von Dominic Narang, Cristina Lento und Derek Wilson (Biomedicines 8(7): 224).

Faltung durch Chaperone

David Balchins Gruppe am Francis Crick Institute in London setzte die HDX ein, um die Proteinfaltung während der Translation am Ribosom zu verfolgen. Die damit erzielten Ergebnisse stellt sie in einem bioRxiv-Preprint vor (doi.org/jnjs).

Am Ribosom sind verschiedene Chaperone dafür verantwortlich, ein entstehendes Protein korrekt in Form zu bringen. In E. coli ist eines davon der sogenannte Trigger Factor (TF). Ohne TF wachsen die Zellen deutlich schlechter. „Und wenn ein weiteres Chaperon ebenfalls deletiert ist, können die Zellen überhaupt nicht mehr wachsen“, ergänzt der Pionier der Proteinfaltung und Chaperon-Forschung Ulrich Hartl, der am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried die Abteilung „Zelluläre Biochemie“ leitet. Dieses zweite Chaperon, das ein Stück weit den Funktionsverlust von TF kompensieren kann, ist DnaK. „Aber die Funktion der Chaperone am Ribosom ist essenziell“, resümiert Hartl, auch wenn das nicht unbedingt für jedes einzelne Protein gelten müsse.

Hartl ist Mitautor des bioRxiv-Manuskripts seines ehemaligen Postdocs Balchin. Als Modell für die Faltung eines am Ribosom entstehenden Proteins suchte sich das Team die Dihydrofolatreduktase (DHFR) von E. coli aus, die Hartl schon fast sein ganzes Forscherleben begleitet. Die DHFR ist ein 159 Aminosäuren kurzes Protein mit nur einer Domäne. Bekannt war, dass die spontane Rückfaltung der denaturierten DHFR in wenigen Millisekunden erfolgt, während die Synthese am Ribosom acht bis sechzehn Sekunden dauert. Für ihre Experimente erzeugte die Gruppe unterschiedliche DHFR-Varianten, an die sie eine acht Aminosäuren lange sogenannte Stall-inducing Sequence jeweils an verschiedenen Positionen anhängte. Das halb fertige Transkript bleibt durch die Blockier-Sequenz im Ribosom stecken – man erhält gewissermaßen einen „Schnappschuss“ des unfertigen, gerade entstehenden (naszierenden oder naszenten) Proteins. Den Komplex aus Ribosom und naszierenden Ketten nennt das Team RNC. „Die RNCs werden aus den E.-coli-Zellen isoliert; hierfür ist vorn am N-Teminus ein spezieller Tag angebracht“, erklärt Hartl.

Unterschiedliche Zeitfenster

An den isolierten Komplexen mit unterschiedlich langen naszenten DHFR-Ketten findet der H-D-Austausch statt. Als Dauer für die Austauschreaktion wählte Balchins Mannschaft zehn, hundert sowie tausend Sekunden. „Danach müssen die Proteine durch Pepsin-artige Proteasen in Peptide zerlegt werden“, fährt Hartl fort. „Das macht man bei saurem pH, weil hierdurch die H-D-Austauschreaktion gestoppt oder zumindest drastisch verlangsamt wird. Schließlich wollen wir ja das Austauschmuster für die nachgeordnete Analyse bewahren und stabilisieren.“

In der Theorie klingt das einfach, tatsächlich seien die Schnappschüsse aber sehr herausfordernd, und es waren unterschiedliche Kontrollexperimente notwendig, um die Resultate abzusichern. „Wir haben ja eine extrem komplexe Mischung, zusammen mit den ganzen ribosomalen Proteinen“, so Hartl. „Diese Proteine müssen Sie aufwendig über HPLC voneinander trennen, und Sie brauchen die sensitivsten Methoden der Massenspektrometrie.“

Anhand der unterschiedlichen Längen der naszenten DHFR-Ketten am Molekül sowie der aufgenommenen Menge Deuterium konnte das Team rekonstruieren, wie sich das Protein nach und nach faltet, während es aus dem Ribosom austritt. Aus ihren Experimenten schließt die Gruppe, dass die Faltung nicht streng sequenziell vom N- zum C-Terminus abläuft, und sich auch einzelne Abschnitte nicht immer „in einem Rutsch“ falten. Offenbar unterscheidet sich der komplexe Faltungsprozess eines Proteins am Ribosom deutlich von der spontanen Faltung abseits des Ribosoms.

Wie repräsentativ die Beobachtungen an einem einzelnen bakteriellen Protein für generelle Vorgänge am Ribosom sind, kann Hartl noch nicht beurteilen. „Die DHFR hat zum Beispiel nur eine wesentliche Strukturdomäne. In der Zukunft wird es wichtig sein, noch komplexere Proteine mit der gleichen Methode zu untersuchen.“