Editorial

Kleine Antikörper-Rivalen - Aptamere und Affimere

Karin Hollricher


(12.12.2022) Aptamere binden ihre Zielmoleküle ähnlich spezifisch wie Antikörper, sind aber deutlich vielseitiger. Als Imaging- und Diagnostik-Agentien konnten sie sich bereits etablieren, als Therapeutika sind sie noch in der Probephase.

Aptamere sind einzelsträngige DNA- oder RNA-Oligonukleotide aus 20 bis 80 zufällig zusammengewürfelten Basen. Nur an den Enden enthalten sie konstante Abschnitte, die für das Selektions-Verfahren, etwa PCR-Amplifikation, Klonierung et cetera nötig sind. Sie bilden dreidimensionale Strukturen, die mit hoher Affinität und Spezifität an die unterschiedlichsten Moleküle binden können – das Spektrum reicht von kleinen Liganden wie Zucker oder Alkaloide bis zu Multiprotein-Komplexen und Nukleinsäuren. Damit ähneln Aptamere Antikörpern, sie sind aber viel kleiner sowie einfacher aufgebaut und lassen sich ohne Tiere durch chemische oder enzymatische Synthese herstellen. Zudem sind Aptamere wenig immunogen und dank verschiedener Modifikationen sehr stabil.

Aptamere werden im Wesentlichen nach einer 1990 von zwei britischen Arbeitsgruppen beschriebenen Methode namens SELEX (Systematic Evolution of Ligands by EXponential enrichment) hergestellt. Die Moleküle sind hoch variabel: Aus vier Nukleotiden lässt sich bei einer Länge von 20 bis 80 Nukleotiden ein gigantischer Sequenz-Pool kombinieren. In der Realität arbeitet man mit 1014 bis 1016 individuellen, chemisch synthetisierten RNA-Sequenzen.

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Foto: Pixabay

Wie findet man darin das Aptamer seiner Wahl? Das Zielmolekül wird an chemischen „Haken” fixiert und über mehrere aufeinanderfolgende Runden mit passenden Aptameren selektioniert. Die Isolierung eines Aptamers ist also eigentlich nichts anderes als eine Frage wiederholter Selektion und gerichteter Evolution.

In zwei Wochen fertig

Auf diese Weise erhält man verschiedene Aptamer-Moleküle, die wahrscheinlich sehr ähnliche Sequenzen aufweisen und im besten Fall mit sehr hoher Affinität und Spezifität an das Ziel binden. „Wenn es gut läuft, brauchen wir dank Automatisierung und Robotern nur zwei Wochen, um ein paar Aptamere gegen ein Zielmolekül zu isolieren”, bestätigt Günter Mayer, Aptamer-Experte an der Universität Bonn. Und wenn es schlecht läuft? „Dann finden wir gar keines. Das passiert allerdings nicht sehr häufig.” Problemfälle sind sehr kleine Moleküle und metastabile Proteine, die ihre Konformation leicht ändern.

In ihrer ursprünglichen Form sind Aptamere ausgesprochen empfindlich gegenüber Nukleasen. Um sie zu stabilisieren, greift man tief in die Chemie-Trickkiste und verändert Basen, Zucker und sogar die Phosphatreste, wodurch xenobiotische Nukleinsäuren (XNA) beziehungsweise Xeno-Nukleinsäuren entstehen. Um Letztere zu synthetisieren, benötigt man allerdings eine entsprechende Polymerase. Die erste hierfür geeignete entdeckte Vitor Pinheiro von der Universität Leuven, Belgien, 2012 (Science 336: 341-44). Er gab damit vor gerade mal zehn Jahren den Startschuss für die Herstellung von XNA-Aptameren.

Statt Ribosen enthalten XNA-Aptamere Hexosen oder Threose, die Phosphate können durch ungeladene Phosphonate ersetzt sein – und statt der vier kanonischen Basen nutzt man beispielsweise Uracil, an dessen 5-Position Benzyl-, Naphthyl- oder Indolyl-Reste hängen. Aptamere mit hydrophoben Seitenketten am Uracil nennt man SOMAmere, sie werden von der Firma SomaLogic (Boulder, USA) hergestellt. SOMA steht für Slow Off-rate Modified Aptamers – ein Hinweis darauf, dass die Modifikationen dafür sorgen, dass die Liganden gut binden und nur sehr langsam wieder dissoziieren.

Besonders einfach lassen sich die Modifikationen durch Klick-Chemie einführen. Auch das Mayer-Labor probierte die Klick-Chemie zur Modifikation von Aptameren aus und gründete, als es funktionierte, die Firma Clickmer Systems für die Vermarktung der Technologie (siehe hierzu auch Laborjournal-online: „Es hat Click gemacht“, 21.10. 2021, Link). „Wir verwenden die Azid-Alkin-Cycloaddition, um Seitenketten an die Aptamere anzuhängen. Dadurch erhalten wir eine große Vielfalt an Modifikationen, was die Bindungseigenschaften und die Chance, passende Aptamere im Selektions-Verfahren zu finden, deutlich steigert“, sagt Mit-Gründerin und Laborleiterin Nora Karnowski. Auch gespiegelte Aptamere aus L-Ribonukleinsäuren, sogenannte Spiegelmere, entwickelt von der Firma Noxxon Pharma, sind stabiler als ihre natürlichen Vorbilder.
Aptamere als Gen-Schalter ...

Aptamere sind interessante Werkzeuge für Forschung und Imaging, sie können aber auch als Diagnostika und Therapeutika eingesetzt werden. Beatrix Süß leitet an der Technischen Universität Darmstadt das Labor Synthetische RNA-Biologie. Sie sieht sich als eine „Tool-Entwicklerin” und betont, dass Aptamere hervorragende Tools seien.

Mit ihrem Team konstruiert sie sogenannte Riboswitches, mit denen man die Genexpression posttranskriptionell beeinflussen kann – vor ein Gen geschaltet werden sie mit diesem transkribiert. Ändern sie in Anwesenheit eines Liganden ihre dreidimensionale Struktur, können sie die Translation der gesamten RNA blockieren – oder auch Einfluss auf das Spleißen nehmen, wenn man sie in ein Intron inseriert.

„Doch leider ist es mit dem klassischen SELEX-Protokoll nur schwer möglich, solche Aptamere zu finden”, konstatiert Süß. Deshalb probierte ihre Gruppe das schon publizierte, aber in Vergessenheit geratene Capture-Selex-Verfahren aus. Bei diesem werden die Aptamere mittels Oligonukleotiden über eine kurze, im Pool integrierte Fänger-Sequenz an kleine Kügelchen (Beads) hybridisiert. Bindet ein Ligand an ein Aptamer, das sich als Riboswitch eignet, verändert sich dessen Konformation, wodurch es sich aus der Hybridisierung löst und eluieren lässt (Nucleic Acids Res. 47: 4883-95, Methods 161: 10-15). „Die auf diese Weise isolierten Moleküle funktionieren tatsächlich als Riboswitches”, erklärt die Biologin.

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Die von Beatrix Süß‘ Gruppe an der Universität Darmstadt konzipierten Riboswitches enthalten eine kleine Aptamer-Domäne, an die Liganden binden. Der Kontakt führt zu einer Änderung der Riboswitch-Konformation, die man für die Kontrolle der Genexpression ausnutzen kann. Illustration: Leon Kraus

Die Darmstädter isolierten zum Beispiel ein Tetracyclin-bindendes Aptamer, mit dem sich Spleiß-Vorgänge kontrollieren lassen. „Mit solch einem Aptamer konnte Michael Reth von der Universität Freiburg endlich herausfinden, welche Rolle das Molekül CD20 bei der Genese von B-Zellen einnimmt”, freut sich Süß. Obwohl CD20 ein Ziel vieler therapeutischer Antikörper zur Behandlung von B-Zell-Tumoren und manchen Autoimmunerkrankungen ist, war die genaue Funktion in B-Zellen noch nicht geklärt. Nun weiß man, dass es ein Gatekeeper ist, der je nach Situation naive B-Zellen ruhig hält oder aktiviert (PNAS 118: e2021342118).

Ein Aptamer für optogenetische Studien entwickelte Mayers Gruppe zusammen mit Andreas Möglichs Team an der Universität Bayreuth (Nat. Chem. Biol. 15: 1085-92). Unter blauem Licht bindet dieses den Photorezeptor PAL (siehe hierzu auch den Journal Club in Laborjournal 10/2019 „Zuwachs im Werkzeugkasten“ ab Seite 32, Link).

Mit dem Konstrukt lässt sich die Genexpression kontrollieren und analysieren. „Wir haben inzwischen eine Reihe von Applikationen getestet, und zwar in Bakterien und Säugerzellen. Wir können beispielsweise die Translation, siRNAs und CRISPR-Cas damit steuern”, berichtet Mayer.

Da Aptamere klein und sehr exakt lokalisierbar sind und außerdem tief in das Gewebe eindringen können, bieten sie sich für die Fluoreszenz-Mikroskopie sowie superauflösende Verfahren an. Von Vorteil ist auch, dass sie ihre Ziele mit einer Eins-zu-eins-Stöchiometrie binden, und hierdurch eine gleichmäßige Markierung ermöglichen.

... und zum Malen mit DNA

Wie gut das funktioniert, dokumentierte die Arbeitsgruppe von Ralf Jungmann vom Max-Planck-Institut für Biochemie in München. Sie benutzte SOMAmere für das DNA-PAINT (DNA Points Accumulation in Nanoscale Topography)-Verfahren, um Targets in verschiedenen Kompartimenten im Multiplexverfahren quasi gleichzeitig lokalisieren zu können (Nat. Methods 15: 685-88). Ein ausführliches Protokoll dazu hat das Team gerade veröffentlicht (Methods Mol. Biol. 2570: 177-85). Mit dieser Technologie sollte es möglich sein, „... zehn bis hunderte zelluläre Ziele in einer einzelnen Zelle mit lokaler Einzelmolekül-Auflösung quantitativ darzustellen”, prognostizierte Jungmanns Gruppe in dem erwähnten Artikel. Und weiter: „Die SOMAmer-Markierung für DNA-PAINT [...] könnte weitreichende Auswirkungen haben und eines der ultimativen Versprechen von SMLM  [Single Molecule Localization Microscopy, Anm. der Red.] einlösen: Die Durchführung von systemweiten biologischen Studien mit quantitativer Einzelprotein-Auflösung.”

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Das von Günter Mayer mitinitiierte Spin-off Clickmer Systems der Universität Bonn wurde im Frühjahr von einem britischen Unternehmen übernommen. Zum Gründungsteam gehören (v.l.) Stefanie Büsch, Joachim Schorr, Maren Hamann, Günter Mayer, Nora Karnowski, Michael Famulok und Elisa Merklinger. Foto: Sandro Todaro

Leuchtkraft-Verstärker

Es existieren auch Aptamere, die die Leuchtkraft von Fluorophoren um mehrere Größenordnungen verbessern können. Fluorescent Light-up APtamers oder kurz FLAPs nennt man diese speziellen RNA-Moleküle. Sie können als DNA von der Zelle codiert und zum FLAP-Tag transkribiert werden. Die heute verwendeten und kommerziell erwerbbaren Moleküle firmieren unter so hübschen Namen wie Spinach, Broccoli, Mango und Corn. Je nach Aptamer-Fluorophor-Kombination reichen die Emissions-Wellenlängen von 380 bis 600 Nanometern.

Das erste FLAP namens Malachit-Grün entwickelte der GFP-Papst Roger Tsien (J. Am. Chem. Soc. 125: 14716-17). Leider war das Chromophor Zell-toxisch – darum sattelte man auf Abkömmlinge des GFP-Chromophors um (Science 333: 642-46). Auch Cyanine eignen sich als Farbstoffe für FLAPs. Beispielsweise stecken in den rot fluoreszierenden Mango-Varianten Biotin-modifizierte Thiazol-Orange-Derivate. FLAPs kann man als Sensoren einsetzen oder auch in FRET-Systeme zur Untersuchung von Protein-RNA- und RNA-RNA-Interaktionen integrieren.

Aptamere sind wie geschaffen für die Diagnostik. Auf diesem Feld tut sich SomaLogic besonders hervor. Mit dem SomaScan will die US-Firma nichts weniger als die Forschung revolutionieren; so heißt es jedenfalls auf ihrer Website. Mit SomaLogics Plattform lässt sich im automatisierten Hochdurchsatz-Verfahren die Anwesenheit von 7.000 Proteinen mittels SOMAmeren überprüfen. Das seien mehr als doppelt so viele wie bei anderen Plattformen, wirbt das Unternehmen. Damit bietet sie sich natürlich für die Suche nach Biomarkern an (PLoS One 5: e15004; PloS One 6: e26332).

Auch Clickmer Systems ist in diesem Markt unterwegs. „Wir produzieren Clickmere vor allem für den diagnostischen Einsatz”, berichtet Karnowski.

Schon wegen ihrer Bindungseigenschaften, die Antiköpern ähneln, sind Aptamere als potenzielle Therapeutika im Gespräch. Tatsächlich wurde in der EU schon 2006 das Aptamer Pegaptanib, das den Wachstumsfaktor VEGF bindet, als Therapeutikum zur Behandlung der altersbedingten Makuladegeneration zugelassen. Doch nahm der Hersteller das Produkt wieder vom Markt – vermutlich weil wirksamere Antikörper entwickelt worden waren.

Seither erreichte kein Aptamer mehr eine Phase-3-Studie. Warum? „Ich denke, das ist eine Frage der Zeit”, spekuliert Mayer. Ja, auch monoklonale Antikörper, die heute die Biotech-Pharma-Szene beherrschen, brauchten dafür eine Weile: Es dauerte nach der Entwicklung der ersten monoklonalen Antikörper zwanzig weitere Jahre, bis zwei monoklonale Antikörper als Therapeutika zugelassen wurden. Zehn Jahre später waren es schon fünfzehn.

Noch nicht reif für Therapeutika

Man sollte also annehmen, dass auch Aptamere dafür „reif” wären. Sind sie aber offensichtlich (noch) nicht. Zu den wenigen Aptameren in klinischen Prüfungen gehören die Moleküle NOX-A12 und NOX-36 von TME Pharma (ehemals Noxxon, Berlin). Diese Spiegelmere neutralisieren verschiedene Chemokine beziehungsweise deren Liganden und sollen damit zur Krebstherapie geeignet sein. TME Pharma gab bekannt, dass NOX-A12 bei der Behandlung des sehr aggressiven Glioblastoms in einer Phase-1/2-Studie „vielversprechende und aufregende Wirksamkeit” zeige. Es lasse in Kombination mit anderen Therapeutika die Tumore deutlich schrumpfen, was mit einer herkömmlichen Therapie kaum gelinge.

Ein anderes gegen Krebszellen gerichtetes Aptamer namens AS1411 überstand eine Phase-2b-Studie leider nicht. Trotz vielversprechender präklinischer Daten war es nicht ausreichend stabil und wirksam (Invest. New Drugs 32: 178-87). AS1411 ist ein Guanin (G)-reiches, 26 Nukleotide langes DNA-Aptamer, das eine G-Quadruplex-Struktur ausbildet und an das Protein Nucleolin bindet, das sich auf den Oberflächen von Krebszellen findet. Man gibt AS1411 aber nicht auf, sondern überprüft, ob sich damit toxische Liganden in Krebszellen einschleusen lassen (Sci. Rep. 9: 7945). Dieses Prinzip testen auch andere Forschergruppen mit Aptameren.

Zufalls-Aptamer

Besondere Aufmerksamkeit erlangte kürzlich das Molekül BC007 des Start-ups Berlin Cures, ein Spin-off des Max-Delbrück-Centrums und der Charité mit Sitz im schweizerischen Zug. Dieses Aptamer bindet Autoantikörper, die G Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR) angreifen. Zufällig stellte man fest, dass BC007 schwerste Symptome von vier Long-COVID-Patienten verschwinden ließ (siehe hierzu auch das Laborjournal-Editorial vom 3. 8. 2020 „Wenn SARS-CoV-2 am Herzen liegt“ - sowie der Hintergrund-Artikel in LJ 5/2022 ab Seite 14, Link). In einer klinischen Studie will das Start-up prüfen, ob sich dieser Therapieerfolg auch bei anderen Patienten mit Long-COVID einstellt. Es wäre sehr wünschenswert, denn für diese sehr schwer Betroffenen gibt es bislang keinerlei Therapie. Erste Ergebnisse erwartet man im dritten Quartal 2023.